Gedichte

Bo Djü-iHerbstgrillen
DodererDer Herbst
EichDer Anfang kühlerer Tage
GoetheGesang der Geister über dem Wasser
HesseStufen
HölderlinHyperions Schicksalslied
Lao-TseVon der Freiheit
RilkeArchaischer Torso Apollos
RilkeHerbsttag (Herr, es ist Zeit)

Bo Djü-i (Bai Juyi, 772–846)

Herbstgrillen

Es schwirrt und schwirrt so dumpf am Fenster unten,
Es summt und summt so tief im Bambus drinnen:
Herbst der Natur Sehnsucht dem Weibe ins Herz,
Regen der Nacht Wehmut dem Manne ans Ohr.


Doderer (1896–1966)

Der Herbst

Schön ist's den Herbst zu spüren. In den Gärten
taumelt das Laub; der Rasen ist gefleckt
vom bunten Mantel, der dem Baum entgleitet.
Eh sich das reine Weiß zum Winter breitet,
sind auf und ab die Hügel rot gescheckt.

Es seufzt die Presse unter den Arkaden,
der Most wird süß und so wie jedes Jahr
versammeln auf den Äckern sich die Raben.

Mich wundert's, wie, was zahllos oft schon war,
von uns ertragen wird. Oh, daß wir lange schliefen,
sanft atmend aus und ein, still wie das späte Jahr.


Eich (1907–1972)

Der Anfang kühlerer Tage

Im Fenster wächst uns klein der Herbst entgegen,
man ist von Fluß und Sternen überschwemmt,
was eben Decke war und Licht, wird Regen
und fällt ins uns verzückt und ungehemmt.

Der Mond wird hochgeschwemmt. Im weißen Stiere
und in den Fischen kehrt er ein.
Uns überkommen Wald und Gras und Tiere,
vergeßne Wege münden in uns ein.

Uns trifft die Flut. Wir sind uns so entschwunden,
daß alles fraglich wird und voll Gefahr.
Wo strömt es hin? Wenn uns das Boot gefunden,
was war dann Wirklichkeit, was Wind, was Haar?


Goethe (1749–1832)

Gesang der Geister über dem Wasser

Des Menschen Seele gleicht dem Wasser
Vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es
und wieder nieder zur Erde muss es
ewig wechselnd

Strömt von der hohen steilen Felswand
der reine Strahl
dann stäubt er lieblich in Wolkenwellen zum glatten Fels
und leicht empfangen wallt er verschleiernd leis rauschend zur Tiefe nieder

Ragen Klippen dem Sturz entgegen
schäumt er unmutig stufenweise zum Abgrund

Im flachen Bette schleicht er das Wiesental hin
und in dem glatten See weiden ihr Antlitz alle Gestirne

Wind ist der Welle lieblicher Buhler
Wind mischt vom Grund aus schäumende Wogen

Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser
Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind


Hesse (1877–1962)

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In and're, neue Bindungen zu geben
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne
Der uns beschützt und der uns hilft zu leben

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten
An keinem wie an einer Heimat hängen
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied, und gesunde


Hölderlin (1770–1843)

Hyperions Schicksalslied

Ihr wandelt droben im Licht
Auf weichem Boden, selige Genien!
Glänzende Götterlüfte
Rühren euch leicht,
Wie die Finger der Künstlerin
Heilige Saiten.

Schicksallos, wie der schlafende
Säugling, atmen die Himmlischen;
Keusch bewahrt
In bescheidener Knospe,
Blühet ewig
Ihnen der Geist,
Und die seligen Augen
Blicken in stiller
Ewiger Klarheit.

Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab.


Lao-Tse (6. Jh. v.Chr.?)

Von der Freiheit

Gib das Wissen auf
Sei ohne Angst

Gibt es einen Unterschied zwischen Ja und Nein?
Gibt es einen Unterschied zwischen Gut und Böse?
Muss ich fürchten, was alle fürchten?
Welch ein Unsinn!

Die Masse freut sich am Tieropfer
und im Frühling am Besteigen der Berge
Ich allein bleibe still, ohne Schicksal
wie ein neugeborenes Kind
wie einer ohne Heimat

Andere besitzen in Fülle
mich erfüllt Besitzlosigkeit
ich bin wie ein Narr
verloren und verwirrt
Andere scheinen hell und klar
ich scheine dunkel und trübe
Andere scheinen klug und erleuchtet
ich scheine dumm und umnachtet
schwankend wie das Meer
haltlos wie der Wind

Andere sind geschäftig
ich bin fern wie ein Einsiedler
Ich bin anders als die andern
mich ernährt die Große Mutter


Rilke (1875–1926)

Archaischer Torso Apollos

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.


Herbsttag

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.


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