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Zu diesem Buch

«Ich bin zu dick. Keiner liebt mich. Ich bin ein Versager.» Jeder Tag im Leben wird zur Qual, wenn man so wenig von sich hält.

Die Kunst, nicht unglücklich zu sein, ist leichter zu erlernen, als man glaubt. Natürlich können wir uns nicht gegen echte Schicksalsschläge wie Krieg, Krankheit, Hunger und Tod absichern; selten jedoch wird der tägliche Mißmut und die Unzufriedenheit mit dem eigenen Schicksal von tiefgreifenden Schwierigkeiten ausgelöst. Die Verdrossenheit, die Lustlosigkeit zu leben, hängt eher damit zusammen, daß wir meinen, nicht so leben zu können, wie wir wollen, weil wir eben nicht so sind, wie wir sein sollten.

Aber wie sollten wir denn sein? Wer gibt das Maß an, nach dem wir uns ausrichten müssen?

Hier liegt unser eigentlicher «wunder Punkt». Wir haben nur unzureichend gelernt, selbst für uns die Verantwortung zu übernehmen. Allzu leicht lassen wir unsere Umgebung bestimmen, was für uns gut und richtig ist, übernehmen Normen und Verhaltensweisen, an denen wir uns ängstlich ausrichten.

Und hier setzt auch die «Therapie» von Dr. Dyer ein. In seinen zwölf «Beratungsstunden» erfahren wir viel über uns selbst. Er nimmt uns schrittweise und behutsam unsere Angst, uns auf uns selbst einzulassen, uns mit unseren Schwächen und Stärken zu akzeptieren. Wir begreifen am Ende seiner Behandlung, wie befreiend es für uns – und unsere Mitmenschen – sein kann, wenn wir selbst gelassen die Verantwortung für unsere individuelle Person übernehmen können.

Von Wayne W. Dyer liegt außerdem vor: «Wirkliche Wunder» (Rowohlt 1994).

Wayne W. Dyer

Der wunde Punkt

Die Kunst, nicht unglücklich zu sein
Zwölf Schritte zur Überwindung unserer seelischen Problemzonen

Deutsch von Lieselotte Mietzner

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg, Dezember 1980
Copyright © 1977 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Umschlagentwurf Werner Rebhuhn
Die Originalausgabe erschien 1976 unter dem Titel
«Your Erroneous Zones»
im Verlag Funk & Wagnalls, New York
«Your Erroneous Zones» Copyright © 1976 by Wayne W. Dyer
ISBN 3 499 17384 0

Für Tracy Lynn Dyer

Ich liebe dich
auf die besondere Art,
von der ich in diesem Buch
geschrieben habe

Inhalt

 Eine persönliche Vorbemerkung11
I.In eigener Verantwortung19
II.Die erste Liebe42
III.Ob die anderen Sie gut finden, ist nicht entscheidend64
IV.Vergangenes auf sich beruhen lassen89
V.Schuldgefühle und Sorgen: Emotionen, die nichts bringen104
VI.Die Lust am Unbekannten134
VII.Schluß mit den Konventionen157
VIII.Die Gerechtigkeitsfalle184
IX.Das ewige Auf-die-lange-Bank-Schieben196
X.Demonstrieren Sie Ihre Unabhängigkeit209
XI.Der Ärger hört auf – für immer230
XII.So lebt man nach der Abkehr von seinen seelischen Problemzonen244

Die ganze Theorie des Universums
ist unfehlbar auf einen einzigen Menschen ausgerichtet –
nämlich auf dich.

walt whitman

11

Eine persönliche Vorbemerkung

Der Mann am Rednerpult vor einer Gruppe von Trinkern war entschlossen, seiner Zuhörerschaft ein für allemal schlagend zu beweisen, daß der Alkohol das schlimmste aller Übel sei. Er hatte zwei Glasgefäße vor sich aufgebaut, die scheinbar beide die gleiche durchsichtige Flüssigkeit enthielten. In dem einen Glas sei klares Wasser, verkündete der Redner jedoch, im anderen reiner Alkohol. Darauf tauchte er einen kleinen Wurm in das erste Glas. Alle sahen zu, wie der Wurm alsbald zum Rand hinschwamm und seelenruhig daran hochkroch. Nun setzte der Mann den Wurm in das Gefäß mit Alkohol. Vor aller Augen zerfiel das Tier. «Also!» sprach der Mann, «was sehen wir daraus?» Von der Rückwand des Raumes her sagte eine Stimme ganz deutlich: «Völlig klar – Trink Alkohol, und du kriegst bestimmt keine Würmer!»

In diesem Buch hier sitzt an allen möglichen Stellen «der Wurm drin» – das soll heißen, daß Sie nur das hören und aufnehmen werden, was Sie entsprechend Ihren jeweiligen Wert- und Vorurteilen, Ihren Überzeugungen und Ihrer persönlichen Vorgeschichte hören wollen. Über selbstschädigende, also die eigenen Absichten und Wünsche durchkreuzende Verhaltensweisen schreibt es sich nicht ganz problemlos, genausowenig wie über die Mittel und Wege, solches Verhalten zu überwinden. Wenn Sie vielleicht auch beteuern, Ihnen wäre wohl an einer gründlichen Erforschung Ihrer selbst im Hinblick auf mögliches Sichändern gelegen, so spricht doch Ihr Verhalten oftmals eine andere Sprache. Nur wenn Sie eine Ausnahme bilden von der großen Mehrheit der Menschen, werden Sie nicht zutiefst vor der harten Anstrengung zurückscheuen, die Gedanken in sich auszumerzen, auf denen Ihre 12Gefühle und Verhaltensweisen der Selbstaufgabe aufbauen.

Zwar bin ich nicht dafür, Fragen der geistigen und seelischen Gesundheit in leichtem Ton zu behandeln, doch sehe ich andererseits auch keinen Grund, warum daraus ein tristes, humorloses Geschäft, das sich hinter einem geheimnistuerischen Fachjargon versteckt, werden sollte. Ich habe mich vor allem deswegen bemüht, besonders ausgeklügelte Erklärungen zu vermeiden, weil mir das «Glücklichsein» durchaus nicht als komplexes Problem erscheinen will.

Gesundsein ist ein natürlicher Zustand; die Mittel, ihn zu erreichen, liegen in Reichweite eines jeden von uns. Die Grundvoraussetzungen eines erfüllten Lebens stecken meiner Ansicht nach in einer wohldosierten Mischung aus harter Arbeit, klarem Denken, Humor und Selbstvertrauen. Wenig sinnvoll erscheinen mir dagegen Patentrezepte oder gar historische Streifzüge zurück in Ihre Vergangenheit, um aufzudecken, daß Sie «eine unnachsichtige Sauberkeitserziehung durchgemacht» haben und daß demnach andere für Ihr Unglücklichsein verantwortlich sind.

Dieses Buch will einen vergnüglichen Weg zum Glücklichsein aufzeigen, einen Weg, der auf der Verantwortlichkeit und Verpflichtung sich selbst gegenüber beruht, auf der Lebenslust und dem Bedürfnis, alles das zu sein, wofür man sich im jeweiligen Augenblick entschieden hat. Das ist der unkomplizierte Weg des gesunden Menschenverstandes. Wenn Sie ein gesunder, glücklicher Mensch sind, schießt Ihnen vielleicht jetzt der Gedanke durch den Kopf: «Ich hätte das Buch genauso schreiben können!» Da haben Sie recht. Die Grundzüge eines erfüllten Lebens versteht man auch ohne beruflichen Hintergrund als Therapeut und ohne den Doktortitel in einer der Sozialwissenschaften. In der Schule oder aus Büchern lernt man darüber nichts, wohl aber, wenn man sich das eigene Wohlergehen zu Herzen nimmt und auch etwas dafür tut. An dieser Aufgabe arbeite ich jeden Tag, während ich zugleich anderen Menschen helfe, die gleiche Entscheidung zu treffen.

Jedes Kapitel dieses Buches ist wie eine Beratungsstunde aufgebaut, um soviel Gelegenheit zur Selbsthilfe wie nur möglich zu bieten. Dabei wird jeweils eine seelische Problemzone oder eine spezifische Art selbstzerstörerischen Verhaltens erforscht sowie auf ihre historischen Ursprünge innerhalb unserer Kultur – und damit auch in Ihrer Psyche – abgeklopft. Der Hauptakzent liegt darauf, Ihnen zum Verständnis 13der Gründe zu verhelfen, die Sie in der selbstschädigenden Zone festhalten. Danach werden die Verhaltensweisen, die in die betreffende seelische Problemzone fallen, im einzelnen aufgeschlüsselt. Bei den Verhaltenstypen, über die wir hier sprechen, geht es um oberflächlich gesehen durchaus annehmbares Alltagsagieren, das in Wirklichkeit das eigene Wohlbefinden jedoch stark beeinträchtigt. Klinische Fälle, also Persönlichkeiten mit schweren psychischen Störungen, werden wir hier nicht behandeln, vielmehr all die neurotischen Signale, die jeder von uns tagtäglich aussendet. Nachdem wir uns also die Verhaltensweisen in der jeweiligen seelischen Problemzone angesehen haben, gehen wir weiter zur Prüfung der Frage, warum Sie an Verhaltensweisen festhalten, die Sie keineswegs glücklicher machen. Dazu ist es erforderlich, dem psychischen Stabilisierungssystem einige Aufmerksamkeit zu schenken, das Sie eigens zu dem Zweck errichtet haben, um für Sie selbst nachteilige Verhaltensmuster lieber weiterzuschleppen, anstatt sich davon zu befreien. Mit diesem Abschnitt sollen die Fragen: «Was erreiche ich eigentlich durch mein Verhalten? Warum gebe ich es nicht auf, obwohl es mir selbst schadet?» beantwortet werden. Wenn Sie alle seelischen Problemzonen der Reihe nach daraufhin untersuchen, wird Ihnen zweifellos auffallen, daß jeder der «Entschädigungssektoren» ähnliche Schlüsse ermöglicht. Sie werden entdecken, daß es quer durch alle Grauzonen unterschiedslos die gleichen Gründe sind, aus denen neurotische Verhaltensweisen beibehalten werden. Für das Individuum ist es grundsätzlich sicherer, an einer einmal erworbenen Reaktion festzuhalten, selbst wenn diese selbstzerstörend wirkt. Solange die seelischen Problemzonen unangetastet bleiben, kann auch die Notwendigkeit, sich zu verändern und Verantwortung zu übernehmen, unterlaufen werden. Die inneren Entschädigungen an Sicherheit und Geborgenheit lassen sich durch das ganze Buch hindurch verfolgen. Sie werden nach und nach einsehen, daß Ihr psychologisches Stabilisierungssystem dem Zweck dient, Verantwortlichkeit von sich abzuwehren und die Anstöße zur Veränderung in Grenzen zu halten. Die Tatsache, daß Sie zahlreiche gegen sich selbst gerichtete Verhaltensweisen aus eben diesen Gründen beibehalten, rückt die Möglichkeit zu uneingeschränkter Entfaltung nur näher in Ihre Reichweite. Beseitigen Sie diese Gründe und Sie machen damit zugleich Ihren seelischen Problemzonen ein für allemal den Garaus.

14

Am Schluß jedes Kapitels finden Sie einige konkrete Handlungsstrategien, die Ihnen dabei helfen sollen, jene Verhaltensweisen, durch die das eigene Selbst negiert wird, abzubauen. Auf diese Weise bewegen wir uns genau im Rahmen einer Beratungsstunde, das heißt also: Erforschen der betreffenden Schwierigkeit und der Stellen, wo sie als selbstschädigendes Verhalten zutage tritt, Einsicht in die Hintergründe der Verhaltensweisen und direkte Strategien zur Beseitigung der seelischen Problemzone.

Ab und zu werden Sie sich des Gefühls nicht erwehren können, dieses Verfahren stecke voller Wiederholungen. Das ist ein gutes Zeichen – ein Zeichen wirkungsvollen Denkens! Ich habe lange genug als Therapeut gearbeitet, um zu wissen, daß effektives Denken – Gedankenarbeit, die selbstzerstörerisches Verhalten zu ändern vermag – nicht bloß dadurch in Gang kommt, daß etwas einmal gesagt wird. Eine neugewonnene Einsicht muß unermüdlich ein ums andere Mal wiederholt werden. Erst wenn Sie sie vollkommen akzeptiert und verstanden haben, fangen Sie an, Ihr Verhalten zu ändern. Deshalb müssen manche Themen in diesem Buch wieder und wieder deutlich gemacht werden, genau wie sie in aufeinanderfolgenden Beratungsstunden immer und immer wieder behandelt werden müssen.

Zwei zentrale Themen ziehen sich durch das gesamte Buch. Das erste ist Ihre Fähigkeit, über Ihre eigenen Gefühle zu bestimmen. Versuchen Sie, Ihr Leben im Licht der Entscheidungen zu sehen, die Sie getroffen oder aber unterlassen haben. Dadurch fällt die ganze Verantwortung dafür, wer Sie sind und wie Sie sich fühlen, nur Ihnen zu. Glücklicher und erfüllter leben heißt, die Wahlmöglichkeiten, die Ihnen offenstehen, bewußter wahrzunehmen. Sie sind das Produkt Ihrer Entscheidungen, und ich scheue mich nicht davor zu behaupten, daß Sie mit entsprechend starker Motivation und ausreichendem Einsatz werden können, was immer Sie wollen.

Das zweite große Thema, um das es im Folgenden geht, ist das Ihrer Verantwortlichkeit für den gegebenen Augenblick. Dieser Begriff wird noch viele Male wiederkehren. Er spielt eine wesentliche Rolle bei der Beseitigung Ihrer seelischen Problemzonen und der Schaffung von Glück und Wohlbefinden. Nur einen einzigen Moment gibt es, in dem Sie etwas erleben können, und das ist jetzt; trotzdem wird ein Großteil der Zeit mit dem Beharren auf vergangenen oder zukünftigen Erlebnissen 15vergeudet. Auch im Jetzt die größte Erfüllung zu erleben, ist der Prüfstein intensiven Lebens, und die gegen das eigene Selbst gerichteten Verhaltensweisen (seelische Problemzonen) sind samt und sonders nichts anderes als der Versuch, dem gegenwärtigen Augenblick aus dem Weg zu gehen.

Auf Entscheidungsmöglichkeit und gegenwartsbezogenes Leben wird fast auf jeder Seite dieses Buches Gewicht gelegt. Wenn Sie es sorgfältig lesen, werden Sie sich selbst bald Fragen stellen, die Ihnen bisher noch nie in den Sinn gekommen sind. «Warum entscheide ich mich jetzt dafür, mich zu ärgern?» – «Wie kann ich mein momentanes Sein noch intensiver gestalten?» Das sind die inneren Fragen eines Menschen, der die seelischen Problemzonen hinter sich läßt und sich auf ein Leben voller Selbstvertrauen und Glück zubewegt.

Am Schluß des Buches steht die knappe Schilderung eines Menschen, der sämtliche seelischen Problemzonen aus seiner Gefühlswelt und seinem Verhalten entfernt hat und nun in einer Empfindungswelt lebt, die nicht mehr außen-, sondern innengesteuert ist. Die folgenden fünfundzwanzig Fragen sollen dazu dienen, Ihre Fähigkeit zur Wahl von Glück und Erfüllung abzuschätzen. Gehen Sie die Fragen so objektiv wie möglich durch, prüfen Sie sich selbst und die Art, wie Sie Ihre gegenwärtigen Augenblicke leben. Bejahende Antworten zeugen von persönlicher Autonomie und wirkungsvoller Entscheidungsfähigkeit.

  1. Glauben Sie, daß Ihr Kopf Ihnen allein gehört? (Kap. I)
  2. Sind Sie imstande, Ihre Gefühle zu beherrschen? (Kap. I)
  3. Werden Sie eher von inneren als von äußeren Beweggründen angetrieben? (Kap. VII)
  4. Sind Sie von der Anerkennung anderer unabhängig? (Kap. III)
  5. Stellen Sie sich selbst Ihre Verhaltensmaßregeln auf? (Kap. VII)
  6. Sind Sie innerlich frei vom Wunsch nach Gerechtigkeit und Fairness? (Kap. VIII)
  7. Können Sie sich selbst akzeptieren und auf Klagen verzichten? (Kap. II)
  8. Sind Sie gegen Heldenverehrung gefeit? (Kap. VIII)
  9. Sind Sie mehr aktiv Handelnder als kritischer Zuschauer? (Kap. IX)
  10. Sind Sie offen für das Geheimnisvolle und Unbekannte? (Kap. VII)
  11. 16Können Sie es vermeiden, sich selbst in absoluten Ausdrücken zu beschreiben? (Kap. IV)
  12. Können Sie sich selbst unter allen Umständen lieben? (Kap. II)
  13. Können Sie sich selbst innerlich Halt geben? (Kap. X)
  14. Haben Sie sich aus allen Abhängigkeitsverhältnissen gelöst? (Kap. X)
  15. Haben Sie alle Versuche, für jeden Fehler in Ihrem Leben einen Schuldigen zu finden, aufgegeben? (Kap. VII)
  16. Haben Sie sich von allen Schuldgefühlen befreit? (Kap. V)
  17. Schaffen Sie es, sich über die Zukunft keine Sorgen zu machen? (Kap. V)
  18. Können Sie Liebe geben und empfangen? (Kap. II)
  19. Können Sie lähmenden Ärger aus Ihrem Leben fernhalten? (Kap. XI)
  20. Haben Sie das Hinausschieben von bestimmten Dingen als Lebensgewohnheit aufgegeben? (Kap. IX)
  21. Haben Sie gelernt, wirkungsvoll Fehler zu machen? (Kap. VI)
  22. Können Sie spontan und ohne vorgefaßten Plan genießen? (Kap. VI)
  23. Haben Sie Humor, und wissen Sie ihn auch bei anderen zu schätzen? (Kap. XI)
  24. Werden Sie von den anderen so behandelt, wie Sie es sich wünschen? (Kap. X)
  25. Lassen Sie sich eher durch Ihr Vermögen leiten, sich weiterzuentwickeln, als durch das Bedürfnis, Ihre Mängel auszugleichen? (Kap. I)

In jedem Augenblick Ihres Lebens haben Sie es in der Hand, alle diese Fragen mit «ja» zu beantworten, wenn Sie nur willens sind, zahlreiche mit «Ich müßte …» und «Eigentlich sollte ich ja …» beginnende Verhaltensregeln, die Sie Ihr ganzes Leben über gelernt haben, fallenzulassen. Es geht dabei um die grundlegende Entscheidung, entweder persönlich frei oder aber weiterhin an die Erwartungen, die andere an Sie richten, gekettet zu sein.

Nach dem Besuch einer meiner Vorlesungen schrieb mir eine Freundin, Doris Warshay, ein Gedicht mit dem Titel «Neue Wege»:

17

Ich will reisen so weit ich kann,
bis zu der Freude in meiner Seele,
will meine Grenzen weiter ziehen
und fühlen, wie ich wachse;
will leben, dasein, «sein»
und die Wahrheit in mir hören.

Ich hoffe zuversichtlich, daß dieses Buch Ihnen dabei helfen wird, mit sämtlichen Scheuklappen und «Würmern der Selbsttäuschung», die Ihnen befriedigende neue Erlebnisse vorenthalten könnten, fertig zu werden und Ihre eigenen neuen Wege zu entdecken und zu erwählen.

19

I.
In eigener Verantwortung

Menschliche Größe besteht im wesentlichen aus der Fähigkeit,
sich in den Umständen, in denen andere den Irrsinn wählen,
für persönliche Erfüllung zu entscheiden.

Wenn Sie über Ihre Schulter schauen, sehen Sie einen ständigen Gefährten. In Ermangelung eines besseren Namens wollen wir ihn «Ihr Tod» nennen. Vor diesem Besucher können Sie Angst haben; Sie können ihn aber auch zu Ihrem persönlichen Vorteil benützen. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.

Einerseits die endlose Aussicht des Totseins, andererseits das atemberaubend kurze Leben vor Augen, fragen Sie sich: «Sollte ich eigentlich auf all die Dinge, die ich so gern tun möchte, verzichten? Sollte ich wirklich mein Leben nach den Vorstellungen anderer einrichten? Ist es wichtig, Besitz anzuhäufen? Ist das Aufschieben auf später die richtige Lebensweise?» Aller Wahrscheinlichkeit nach lassen sich Ihre Antworten ganz kurz zusammenfassen: Lebe … Sei du selbst … Genieße … Liebe.

Sie können also Ihren Tod vergeblich fürchten, Sie können ihn sich aber auch zunutzemachen, um wirklich leben zu lernen. Denken Sie an Tolstois Iwan Iljitsch, wie er in Erwartung des großen Gleichmachers sein vergangenes Leben an sich vorüberziehen läßt, sein Leben, das gänzlich von anderen beherrscht wurde, in dem er auf Selbstbestimmung verzichtet hatte, um sich reibungslos einem bestimmten System anzupassen.

«Wie, sollte denn mein ganzes Leben verkehrt gewesen sein?» Auf einmal fiel ihm ein, daß es vielleicht doch wahr sein könnte, was ihm bisher immer vollkommen unmöglich erschienen war, nämlich daß er sein Leben nicht so gelebt haben könnte, wie er es eigentlich hätte tun sollen. Auf einmal fiel ihm ein, daß die kaum wahrnehmbaren Impulse, 20die er immer sogleich unterdrückt hatte, vielleicht das wirkliche Leben gewesen waren, und alles andere war falsch. Vielleicht waren seine Berufspflichten und die ganze Ordnung seines Lebens und die seiner Familie, alle seine sozialen und offiziellen Interessen falsch gewesen. Er versuchte, das alles vor sich selbst zu verteidigen, fühlte aber plötzlich, wie armselig es war, was er da verteidigte. Es gab nichts zu verteidigen …

Wenn Sie das nächste Mal wieder vor der Entscheidung stehen, ob Sie nun die Verantwortung für sich selbst übernehmen und Ihre eigene Wahl treffen sollen, dann legen Sie sich selbst eine gewichtige Frage vor: «Wie lange werde ich tot sein?» Von dieser Ewigkeitsperspektive her wird es Ihnen dann gelingen, Ihre persönliche Wahl zu treffen und alle Sorgen, Befürchtungen, Zweifel, ob Sie sich denn das auch wirklich leisten können, und alle Schuldgefühle denen zu überlassen, die ewig zu leben gedenken.

Falls Sie sich nicht zu diesem Schritt entschließen, müssen Sie sich auf ein Leben gefaßt machen, in dem immer andere sagen werden «Du mußt …!» Da Ihr Aufenthalt auf der Erde schon kurz genug ist, so sollte er doch wenigstens erfreulich für Sie sein. Mit einem Wort: Es geht um Ihr Leben; machen Sie daraus was Sie wollen.

Ihr Intelligenzquotient und das Glück

Wenn Sie die Verantwortung für sich selbst in Ihre eigenen Hände nehmen, so heißt das gleichzeitig einigen weitverbreiteten Legenden abzuschwören. Ganz oben auf der Liste steht die Ansicht, Intelligenz könne gemessen werden an der Fähigkeit, komplexe Probleme rasch zu durchschauen, bestimmte Lese-, Schreib- und Rechenleistungen zu erbringen und algebraische Gleichungen flott zu lösen. Von diesem Blickwinkel her betrachtet gelten das formale Bildungsniveau eines Menschen und sein theoretisches Bücherwissen als alleiniger Maßstab seiner Selbstverwirklichung. Dadurch wird der intellektuelle Dünkel bestärkt, der sich schon demoralisierend genug ausgewirkt hat. So halten wir jemanden für «intelligent», der über eine höhere schulische Ausbildung verfügt, der in einer der Wissensdisziplinen ein «As» ist – etwa in der Mathematik oder ganz allgemein den Naturwissenschaften, 21der über einen reichen Wortschatz verfügt, sich eigentlich überflüssige Fakten besonders gut merken kann oder vielleicht besonders schnell lesen kann. In den psychiatrischen Anstalten drängen sich jedoch neben den Kranken mit «normalem schulischem Werdegang» genauso viele Patienten, die über alle Zeugnisse der Gelehrsamkeit verfügen. Dagegen ist ein tatkräftiges, glückliches Leben, das jeden Tag und jeden einzelnen Augenblick eines jeden Tages auskostet, ein verläßlicherer Gradmesser für die Intelligenz des einzelnen.

Wenn Sie sich glücklich fühlen, wenn Sie die Möglichkeiten des gegebenen Augenblicks voll ausschöpfen – dann sind Sie ein intelligenter Mensch. Das Lösen von Problemen kann außerdem zu Ihrem Wohlergehen beitragen; wenn Sie jedoch wissen, daß Sie, obwohl Sie eine bestimmte Schwierigkeit nicht zufriedenstellend lösen können, noch immer in der Lage sind, sich für ein glückliches Leben zu entscheiden oder sich zumindest nicht unglücklich fühlen müssen, dann sind Sie intelligent. Sie sind intelligent, weil Sie über die entscheidende Waffe gegen das ominöse NZB-Syndrom verfügen. Na? Aber klar doch: gegen den NervenZusammenBruch.

Vielleicht überrascht es Sie zu erfahren, daß es so etwas wie einen Nervenzusammenbruch gar nicht gibt. Nerven brechen nicht zusammen. Schneiden Sie doch mal jemanden auf und halten Sie Ausschau nach gebrochenen Nerven. Weit und breit nichts zu sehen! «Intelligente» Menschen erleiden keine Nervenzusammenbrüche, weil sie die Verantwortung für sich selbst übernommen haben. Sie wissen, wie man statt der Depression das Glücklichsein wählt, weil sie mit den Problemen in ihrem Leben umgehen können. Beachten Sie bitte: ich sagte nicht, daß sie ihre Probleme «lösen» können. Anstatt ihre Intelligenz nach ihrer Fähigkeit zum Lösen ihrer Probleme zu beurteilen, messen diese Menschen sie an ihrem Vermögen, sich stets glücklich und wertvoll zu fühlen, unabhängig davon, ob für die Probleme nun tatsächlich eine Lösung gefunden wird oder nicht.

Sie können dazu übergehen, die Gefühle, zu denen Sie sich angesichts widriger Umstände entscheiden, zum Kriterium Ihrer wahren Intelligenz zu machen. Wir alle haben so ziemlich mit den gleichen Problemen zu kämpfen. Jeder, der in irgendeiner Form sozialen Kontakt und Austausch mit anderen hat, sieht sich vor bestimmte, einander sehr ähnliche Schwierigkeiten gestellt. Meinungsverschiedenheiten, 22Konflikte und Kompromisse bilden einen festen Bestandteil unseres Lebens, genauso wie die Probleme praktisch aller Menschen sich in gleicher Weise um Geld, das Altwerden, um Krankheit, Todesfälle, Naturkatastrophen und Unfälle drehen. Manchen allerdings gelingt es, damit fertig zu werden, trotz solcher Umstände nicht in lähmende Niedergeschlagenheit und Trübsal zu versinken, während andere unter der Belastung nachgeben, unbeweglich und starr werden oder tatsächlich das Opfer eines Nervenzusammenbruchs werden. Die Menschen, die Probleme als einen Teil des menschlichen Lebens anerkennen und Glück nicht an einer mehr oder minder nur eingebildeten Problemfreiheit messen wollen, sind die intelligentesten Wesen, die wir kennen und zugleich auch – die seltensten.

Wenn Sie lernen wollen, die volle Verantwortung für sich zu übernehmen, müssen Sie sich eine ganz neue Denkweise aneignen, mit der Sie es wohl nicht ganz leicht haben werden, weil allzu viele Kräfte in unserer Gesellschaft der individuellen Verantwortlichkeit entgegenwirken. Sie müssen auf Ihre Fähigkeit vertrauen, zu jeder Zeit die Emotionen empfinden zu können, die Sie tatsächlich empfinden wollen! Das ist eine radikale Anschauung. Vermutlich sind Sie im Glauben aufgewachsen, daß Sie Ihre Gefühle nicht beeinflussen können; daß Ihnen Ärger, Angst und Haß oder Liebe, Ekstase und Freude ohne eigenes Zutun widerfahren. Ein Mensch steuert seine Gefühle nicht, er nimmt sie hin. Wenn etwas Trauriges passiert, breitet sich ganz natürlich und von allein Kummer in Ihnen aus, und alles was Ihnen übrig bleibt, ist sich ein paar armselige Hoffnungen zu machen, es mögen bald fröhlichere Ereignisse nachfolgen, so daß Sie wieder guter Dinge sein können.

Entscheiden Sie selbst, wie Sie sich fühlen wollen

Gefühle sind nicht einfach Empfindungen, die vom Himmel fallen, sondern Reaktionen, die Sie gewählt haben. Wenn Sie über Ihre Gefühle bestimmen, brauchen Sie keine selbstschädigenden Reaktionen zu wählen. Sobald Sie einmal eingesehen haben, daß Sie fühlen können, was Sie fühlen möchten, sind Sie auf dem Weg zur «Intelligenz» – einem direkten Weg, von dem keine Abzweigung in die Sackgasse 23des Nervenzusammenbruchs geht. Dieser Weg wird Sie in unbekannte Regionen führen, denn Sie werden ein bestimmtes Gefühl nicht mehr als allgemeine Lebenstatsache, sondern als freie Entscheidung ansehen. Das ist das A und O persönlicher Freiheit.

Die Vorstellung, Sie seien für Ihre eigenen Gefühle nicht zuständig, können Sie mit Hilfe der Logik angreifen. Mit einem einfachen Vernunftschluß (einer Denkfigur in der Logik, bei der Sie von einer Haupt- und einer Nebenvoraussetzung ausgehen und durch die Übereinstimmung zwischen den beiden Voraussetzungen zu einer Schlußfolgerung gelangen) können Sie den Prozeß, Eigenverantwortung zu erlernen, sowohl auf gedanklichem wie auf emotionalem Gebiet jetzt gleich beginnen:

Logischer Vernunftschluß 
Hauptvoraussetzung:Aristoteles ist ein Mann.
Nebenvoraussetzung:Allen Männern wächst ein Bart.
Schlußfolgerung:Dem Aristoteles wächst ein Bart.
Unlogischer Vernunftschluß 
Hauptvoraussetzung:Dem Aristoteles wächst ein Bart.
Nebenvoraussetzung:Allen Männern wächst ein Bart.
Schlußfolgerung:Aristoteles ist ein Mann.

Wenn Sie mit Logik arbeiten, müssen Sie natürlich darauf achten, daß Ihre Haupt- und Nebenvoraussetzung miteinander vereinbar sind. Im zweiten Beispiel könnte Aristoteles genausogut ein Orang-Utan oder ein Maulwurf sein. Hier ist eine Denkübung, die für alle Zeit mit der Anschauung aufräumt, daß Sie nicht die Verantwortung für Ihre eigene Gefühlswelt übernehmen könnten:

Hauptvoraussetzung:Ich kann meine Gedanken steuern.
Nebenvoraussetzung:Meine Gefühle stammen aus meinen Gedanken.
Schlußfolgerung:Ich kann meine Gefühle steuern.

Ihre Hauptvoraussetzung ist klar: In Ihrer Macht steht es, alles zu denken, was Sie Ihrem Kopf aufzunehmen gestatten. Wenn Ihnen 24«ganz plötzlich ein Gedanke kommt» (Sie entschließen sich, ihn in Ihren Kopf einzulassen, obwohl Sie vielleicht gar nicht wissen, warum), haben Sie es immer noch in der Hand, ihn wieder zu verjagen. Die Kontrolle über Ihre geistige Welt liegt also immer noch bei Ihnen. Ich kann Ihnen zwar sagen: «Denken Sie sich eine rosa Antilope», aber Sie können sie in Gedanken grün einfärben, sie in ein afrikanisches Erdferkel verwandeln oder einfach an etwas anderes denken, wenn Ihnen der Sinn danach steht. Sie allein bestimmen darüber, was als Gedanke Zugang zu Ihrem Kopf erhält. Wenn Sie das nicht glauben können, dann beantworten Sie mir doch bitte die Frage: «Wenn Sie Ihre Gedanken nicht steuern, wer tut es dann?» Vielleicht Ihre bessere Ehehälfte, der Chef oder das Mamilein? Falls jene den Ausschlag dafür geben, was Sie denken, dann schicken Sie sie allesamt zur Therapie und Ihnen wird es sofort bessergehen! Aber in Wirklichkeit wissen Sie es ja doch besser. Sie, nur Sie allein steuern Ihren Denkapparat (außer unter extremen Bedingungen wie der «Gehirnwäsche» oder bei experimentellen Konditionierungsversuchen, die aber in Ihrem Leben keine Rolle spielen). Ihre Gedanken gehören Ihnen, nur Sie können sie beibehalten, ändern, mitteilen oder sich in sie versenken. Niemand anders kann in Ihr Gehirn eindringen und Ihre Gedanken so besitzen und erleben, wie Sie sie erleben. Ihre Gedanken steuern Sie, daran gibt es keinen Zweifel, und Ihnen steht es frei, von Ihrem Gehirn so Gebrauch zu machen, wie es Ihnen richtig erscheint.

Ziehen Sie die Ergebnisse der Forschung wie auch Ihren gesunden Menschenverstand zu Rate, und Sie werden sehen, daß auch die Nebenvoraussetzung schwerlich anzufechten ist. Ohne erst einen Gedanken gedacht zu haben, können Sie kein Gefühl (Emotion) verspüren. Ohne Ihr Gehirn ist auch Ihre Fähigkeit zu «fühlen» ausgelöscht. Ein Gefühl ist eine körperliche Reaktion auf einen Gedanken. Immer wenn Sie weinen, rot werden, wenn Ihr Herz schneller schlägt oder sonst eine der ungezählten Formen möglicher emotionaler Reaktionen bei Ihnen auftritt, haben Sie zuvor ein Signal aus Ihrem Gehirn empfangen. Ist Ihr Gehirn geschädigt oder «kurzgeschlossen», dann können Sie auch unter Umständen keine emotionalen Reaktionen mehr erleben. Bei bestimmten Gehirnschädigungen sind Sie sogar außerstande, körperlichen Schmerz zu empfinden; Sie könnten Ihre Hand auf einer Kochplatte förmlich braten, ohne daß es Ihnen im geringsten weh täte. 25Sie wissen, daß Sie Ihr Gehirn nicht umgehen und trotzdem irgendwelche Gefühle in Ihrem Körper empfinden können. Ihre Nebenvoraussetzung entspricht also der Wahrheit. Jedem Gefühl, das Sie haben, ist ein Gedanke vorausgegangen, ohne Gehirn können Sie nicht fühlen.

Ihre Schlußfolgerung ist ebenfalls unangreifbar. Wenn Sie Ihre Gedanken steuern und Ihre Gefühle wiederum aus Ihren Gedanken resultieren, dann können Sie auch Ihre Gefühle steuern, indem Sie nämlich die Gedanken beeinflussen, die ihnen vorausgehen. Einfach ausgedrückt: Sie meinen, manche Dinge oder manche Menschen würden Sie unglücklich machen; das stimmt aber nicht. Sie selbst machen sich unglücklich durch das, was Sie über die Menschen oder Dinge in Ihrem Leben denken! Ein freier, gesunder Mensch werden, das heißt lernen, anders zu denken. Wenn Sie erst Ihre Gedanken verändern können, werden bald Ihre neuen Gefühle zum Vorschein kommen, und damit haben Sie schon den ersten Schritt in Richtung auf Ihre persönliche Freiheit getan.

Um den Vernunftschluß auch einmal von der persönlicheren Seite her zu beleuchten, wollen wir uns dem Fall von Bernd Kalvin zuwenden, eines jungen Managers, der seine Zeit zum größten Teil damit zubringt, sich darüber zu grämen, daß sein Chef ihn für dumm hält. Bernd leidet sehr unter der niedrigen Einschätzung durch seinen Chef. Wäre er aber immer noch genauso niedergeschmettert, wenn er gar nicht wüßte, daß sein Chef ihn für unfähig hält? Natürlich nicht. Wie sollte er denn unter einer Sache leiden, von der er gar nichts weiß? Bernds Niedergeschlagenheit hat also gar nichts damit zu tun, was sein Chef denkt. Was Bernd selbst denkt, drückt ihn nieder. Außerdem macht er sich schwer damit zu schaffen, daß er sich selber weismacht, die Gedanken eines anderen seien wichtiger als seine eigenen.

Gleiches gilt logischerweise für alle Ereignisse, Sachen und die persönlichen Standpunkte der Leute. Nicht der Tod eines Menschen macht Sie unglücklich; Sie können erst traurig werden, wenn Sie davon erfahren haben – also ist es nicht der Tod selbst, sondern was Sie sich darüber vorsagen. Föhneinbrüche und Schlechtwetterperioden sind nicht deprimierend an sich; Depressionen sind eine rein menschliche Angelegenheit. Wenn schlechtes Wetter Sie deprimiert, haben Sie sich selbst Dinge eingeredet, die Sie niederdrücken. Das soll nicht heißen, daß Sie sich etwas vormachen und ein Unwetter genießen sollten, aber 26fragen Sie sich doch: «Warum sollte ich die Depression wählen? Hilft sie mir denn, besser damit fertig zu werden?»

Die Kultur, in der Sie aufgewachsen sind, hat Sie gelehrt, daß Sie für Ihre Gefühle nichts könnten, obwohl die Einsicht der Vernunft sagt, daß das noch nie gestimmt hat. Sie haben einen ganzen Wust von Redensarten gelernt, um sich gegen die Tatsache zur Wehr zu setzen, daß Sie eben doch Ihre Gefühle beherrschen. Hier folgt eine kurze Aufstellung solcher Äußerungen, die Sie immer wieder gebraucht haben. Achten Sie darauf, was Sie wirklich aussagen.

Diese Liste ließe sich unendlich fortsetzen. In jedem Satz ist die Versicherung eingeschlossen, daß man für seine Gefühle nicht selbst verantwortlich ist. Ändern Sie nun die Liste der Wahrheit entsprechend, so daß sie die Tatsache widerspiegelt, daß Sie Herr Ihrer Gefühle sind und daß Ihre Gefühle aus den Gedanken resultieren, die Sie sich über die Dinge machen.

Vielleicht sind Sie der Ansicht, die Punkte der ersten Liste wären alle ganz normale Redewendungen, die weiß Gott nicht viel zu bedeuten hätten, sondern innerhalb unserer Kultur eben einfach von bloßen Redewendungen zu Klischees geworden seien. Wenn das Ihre vernunftgemäße Erklärung ist, dann fragen Sie sich doch einmal, warum dann die Aussagen der zweiten Liste nicht in gleicher Weise Gemeinplätze geworden sind. Die Antwort gibt unsere Kultur: sie predigt die Denkweise, die sich in der ersten Liste zeigt, und unterdrückt die der zweiten.

Dabei ist die Sache doch eigentlich glasklar. Verantwortlich dafür, wie Sie sich fühlen, sind allein Sie! Sie fühlen, was Sie denken, und wenn Sie sich dazu entschließen, ganz anders zu denken, dann können Sie das lernen. Überlegen Sie sich, ob es sich wirklich auszahlt, unglücklich, niedergeschlagen oder verletzt zu sein. Beginnen Sie damit, gründlich nachzuforschen, was für Gedanken das eigentlich sind, die zu diesen hemmenden Gefühlen führen.

Die Kunst, nicht unglücklich zu sein

Auf neue Art zu denken ist nicht leicht. Eine Reihe bestimmter Grundgedanken und die sich daraus ergebenden hemmenden Gedanken sind Ihnen zur festen Gewohnheit geworden. Es bedarf einiger Anstrengung, um alle die Denkgewohnheiten, die Sie sich bis heute angeeignet haben, abzulegen. Glücklich sein ist einfach, aber lernen, nicht unglücklich zu sein, kann ungeheuer schwierig werden.

Glücklich sein ist ein natürlicher Zustand des Menschen. Bei kleinen Kindern können Sie das ganz leicht beobachten. Die große Schwierigkeit, wahrscheinlich weil es so ungewohnt ist, liegt im Verlernen der Gebote und Verbote, die Sie im Laufe der Zeit akzeptiert und sich zu eigen gemacht haben. Deswegen ist Bewußtwerdung der erste Schritt 28zur Selbstverantwortlichkeit. Zupfen Sie sich selbst am Ärmel, wenn Sie von sich selber so etwas hören wie: «Er hat mich verletzt.» Stoßen Sie sich noch im selben Augenblick mit der Nase drauf, was Sie da eigentlich tun! Um anders zu denken, müssen Sie sich zuvor der alten Denkschemata bewußt geworden sein. Sie sind an Denkmuster gewöhnt, die die Ursache für Ihre Gefühle außerhalb Ihrer selbst suchen. Diese Denkweise hat sich im Laufe der Zeit, über Tausende von Stunden, verfestigt; um die Waage ins Gleichgewicht zu bringen, werden ebenso viele Stunden des neuen Denkens notwendig sein, eines Denkens, das seine Verantwortlichkeit für Ihre Gefühle nicht leugnet. Eine knochenharte Aufgabe, sicherlich, aber was soll's – das ist noch lange kein Grund, sich davor zu drücken.

Denken Sie an Ihre ersten Fahrversuche mit dem Auto. Sie standen damals vor einem scheinbar unlösbaren Problem: drei Pedale, aber nur zwei Füße, um sie zu bedienen. Als erstes wurde Ihnen klar, was für eine komplizierte Sache das war. Die Kupplung langsam kommen lassen … Herrje, zu schnell, mörderisch, dies Rucken … Ganz vorsichtig Gas geben und die Kupplung laaangsam kommen lassen … Den rechten Fuß auf die Bremse, aber um Gottes willen die Kupplung nicht vergessen, sonst wird der Motor wieder abgewürgt … Eine Unzahl innerer Signale: unablässiges bei der Sache sein, mit dem Gehirn arbeiten. Was mache ich jetzt? Sich der Situation bewußt sein, und schließlich nach tausend Versuchen, Fehlern, neuen Anläufen kommt der Tag, an dem Sie sich in Ihren Wagen setzen und einfach losfahren. Kein Motorabwürgen, kein ruckhaftes Anfahren, kein Überlegen mehr. Das Autofahren ist Ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Und wie haben Sie das erreicht?! Mit sehr viel Mühe, mit sehr viel am gegebenen Augenblick orientiertem Denken, mit Überlegung und Anstrengung!

Sie können sich also auf solche körperlichen Anforderungen wie das Erlernen der Koordination von Händen und Füßen beim Autofahren einstellen. Der gleiche Prozeß spielt sich im Bereich des Gefühlslebens ab, wenngleich er weniger bekannt ist. Ihre heutigen Gewohnheiten haben Sie erworben, indem Sie sie Ihr ganzes Leben hindurch eingeübt haben. Sie fühlen sich ganz automatisch unglücklich, ärgerlich, verletzt oder frustriert, weil Sie vor langer Zeit gelernt haben, in diesen Bahnen zu denken. Sie haben diese Verhaltensweisen akzeptiert und nie den 29Versuch gemacht, sie in Frage zu stellen. Genauso wie Sie diese selbstschädigenden Verhaltensweisen gelernt haben, können Sie auch lernen, sich nicht mehr unglücklich, ärgerlich, verletzt und frustriert zu fühlen.

So hat man Ihnen zum Beispiel beigebracht, ein Besuch beim Zahnarzt sei eine unangenehme, mit Schmerzen verbundene Sache. Schon immer war Ihnen der Zahnarztbesuch lästig, und Sie sagen sogar zu sich selbst: «Diesen Bohrer haß ich richtig!» Das sind alles nur erlernte Reaktionen. Sie könnten das Ganze so verändern, daß Sie sogar etwas davon haben, wenn Sie sich nämlich vornehmen, daraus eine vergnügliche, spannende Prozedur zu machen. Wenn Sie sich wirklich dazu entschlössen, Ihr Gehirn für sich arbeiten zu lassen, könnten Sie sich das Geräusch des Bohrers als Signal für ein aufregendes Liebeserlebnis denken, und jedesmal, wenn es wieder losgeht – brrrrrrrrrrrrrrrr –, Ihr Gehirn darauf trainieren, sich den orgiastischsten Augenblick Ihres Lebens auszumalen! Unter dem, was Sie früher Schmerz genannt haben, könnten Sie sich etwas anderes vorstellen und sich also auch dafür entscheiden, neue und angenehme Gefühle dabei zu empfinden. Wieviel amüsanter und befriedigender, das Heft selbst in die Hand zu nehmen und die Tücken Ihner zahnärztlichen Umwelt selbst zu meistern, als weiter den alten Vorstellungen anzuhängen und alles passiv zu erdulden!

Vielleicht sind Sie skeptisch. Vielleicht wenden Sie ein: «Ich kann mir denken, was ich will, aber wenn er anfängt zu bohren, wird mir immer noch ganz flau im Magen.» Wie war es mit Kupplung, Gaspedal und Bremse? Wann haben Sie wirklich geglaubt, daß Sie fahren können? Ein Gedanke wird erst zur Überzeugung, wenn Sie wiederholt damit gearbeitet haben, nicht wenn Sie ihn ein einziges Mal ausprobieren und dann Ihr Anfängerpech als Vorwand zum Aufgeben benützen.

Für sich selbst Verantwortung übernehmen bedeutet mehr als das Ausprobieren neuer Denkungsarten. Es verlangt den Willen, glücklicher zu werden und jeden Gedanken, der lähmendes Unglücklichsein in Ihnen hervorruft, entschlossen zurückzuweisen und auszuschalten.

30

Sie brauchen Ihr Glück nicht zu suchen, entscheiden Sie sich einfach dafür

Wenn Sie immer noch glauben, daß es nicht Ihr eigener Entschluß ist, unglücklich zu sein, dann stellen Sie sich einmal folgende Entwicklung vor. Jedesmal, wenn Sie sich unglücklich fühlen, werden Sie einer Behandlung unterzogen, die Ihnen unangenehm ist. Sei es, daß Sie über lange Zeiträume hinweg irgendwo allein eingesperrt, sei es, daß Sie in einen vollbesetzten Aufzug gequetscht werden, in dem Sie dann tagelang stehen müssen. Vielleicht wird Ihnen auch jegliche Nahrung entzogen, oder Sie müssen ewas essen, das Ihnen in tiefster Seele zuwider ist. Oder Sie werden gefoltert – körperlich gefoltert, nicht seelisch, wie Sie es ständig selbst tun! Stellen Sie sich also vor, eine dieser Strafen würde Ihnen so lange auferlegt, bis Sie Ihre Gefühle des Unglücklichseins verjagen. Was meinen Sie, wie lange Sie wohl noch weiter daran festhalten würden? Es ist anzunehmen, daß Sie die Kontrolle über die Situation ziemlich schnell in den Griff bekommen. Die Frage ist also nicht, ob Sie Ihre Gefühle beherrschen können, sondern ob Sie es auch tatsächlich tun. Wieviel müssen Sie ertragen, bevor Sie sich dazu durchringen? Es gibt Leute, die lieber verrückt werden als die Kontrolle über ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Andere geben einfach auf und nehmen mit einem elenden Leben vorlieb, weil ihnen der Gewinn an Mitleid dabei größer erscheint als die Belohnung, glücklich zu leben.

Es geht hier um Ihr Vermögen, in jedem einzelnen Augenblick Ihres Lebens das Glücklichsein zu wählen oder sich zumindest nicht für das Unglücklichsein zu entscheiden. Eine unerhörte Anschauung, mag sein, aber Sie sollten sie doch sorgfältig prüfen, bevor Sie sie ablehnen, weil das hieße, sich selbst aufzugeben. Diese Anschauung zurückweisen bedeutet gleichzeitig, von anderen zu erwarten, daß sie für Sie entscheiden. Aber es könnte vielleicht doch leichter sein, das Glück zu wählen, als manche der Dinge, mit denen Sie sich täglich das Leben schwermachen.

Ebenso wie es Ihnen freisteht, statt Niedergeschlagenheit inneres Wohlbefinden anzustreben, können Sie in den zahllosen Vorkommnissen des täglichen Lebens selbstverwirklichende Verhaltensweisen den selbstzerstörenden vorziehen. Wenn Sie heutzutage Auto fahren, 31werden Sie wahrscheinlich dann und wann in einen Verkehrsstau geraten und hoffnungslos festsitzen. Werden Sie dann ärgerlich, fluchen Sie auf die anderen Fahrer, schreien Sie Ihre Mitfahrer an, lassen Sie Ihre Gefühle blind an allem aus, was in Ihrer Nähe ist? Rechtfertigen Sie Ihr Verhalten dann damit, daß Sie im Verkehr eben immer leicht außer sich geraten, daß es in einer solchen Situation eben einfach mit Ihnen durchgeht? Wenn ja, dann haben Sie feste Vorstellungen von sich und Ihrem Verhalten im Verkehr. Wie wäre es, wenn Sie dazu übergingen, diese Vorstellungen zu ändern? Wenn Sie statt dessen Ihren Verstand in für Sie selbst förderlicherer Weise gebrauchten? Es würde zwar ein bißchen Zeit beanspruchen, aber Sie könnten lernen, anders mit sich umzugehen, sich neue Verhaltensweisen anzugewöhnen wie Pfeifen, Singen, «akustische Briefe» auf einen Kassettenrecorder zu sprechen oder sich sogar darauf einzustellen, Ihre Unmutsausbrüche um jeweils dreißig Sekunden zu verzögern. Dadurch haben Sie nicht gelernt, sich liebend gern ins Verkehrsgetümmel zu stürzen, sondern, wenn auch zunächst nur mühsam, neue Gedanken einzuüben. Sie haben die Entscheidung getroffen, sich nicht mehr die Laune verderben zu lassen. Sie haben sich dafür entschieden, die alten selbstschädigenden Gefühle in einem langsamen Prozeß schrittweise gegen gesunde neue Gefühle und Gewohnheiten auszutauschen.

Sie haben die Wahl, jedes Erlebnis erfreulich und fruchtbar zu gestalten! Stumpfsinnige, langweilige Parties und Komiteesitzungen sind hervorragend geeignet, neue Gefühle anzusteuern. Wenn Sie sich langweilen, können Sie Ihren Geist in aufregender Weise arbeiten lassen, indem Sie dem Gesprächsthema durch eine gezielte Bemerkung eine entscheidende Wendung geben, das Anfangskapitel Ihres Romans schreiben oder Pläne entwerfen, in Zukunft solche Lebenslagen zu vermeiden. Aktiv von Ihrem Verstand Gebrauch machen heißt, die Menschen und Situationen, die Ihnen die meisten Schwierigkeiten bereiten, in Gedanken abzuschätzen und ständig Anstrengungen zu unternehmen, befriedigend mit ihnen zurechtzukommen. Wenn Sie zu den Leuten gehören, die sich im Restaurant häufig über die nachlässige und schlampige Bedienung ärgern, dann überlegen Sie sich doch erst einmal die Gründe, die dafürsprechen, sich nicht über irgendwelche Personen oder Dinge aufzuregen, die nicht Ihren Wünschen entsprechen. Sie sind zu wertvoll, um sich über jemand anderen zu ärgern, vor 32allem nicht über jemanden, der in Ihrem Leben praktisch keine Rolle spielt. Überlegen Sie sich dann Ihr weiteres Vorgehen, um die Umgebung zu verändern, verlassen Sie das Lokal oder tun Sie sonst etwas. Aber lassen Sie es nicht einfach bei bloßem Ärgern bewenden. Machen Sie Gebrauch von Ihrer Fähigkeit, die Situation in der Hand zu behalten, und Sie verfügen am Ende über die erstklassige Gewohnheit, sich nicht mehr aus der Ruhe bringen zu lassen, wenn etwas schiefgeht!

Flucht in die Krankheit

Sie haben es ebenfalls in der Hand, bestimmte körperliche Beschwerden, die nicht auf bekannten organischen Störungen beruhen, zu beseitigen. Solche wohlbekannten Beschwerden, die oftmals keine körperlichen Ursachen haben, sind zum Beispiel Kopf- und Rückenschmerzen, Magengeschwüre, zu hoher Blutdruck, Hautausschläge und -unreinheiten, Krämpfe, unregelmäßig auftretende Schmerzen und ähnliches mehr.

Ich hatte einmal eine Klientin, die mir hoch und heilig versicherte, sie hätte seit vier Jahren jeden Morgen Kopfweh gehabt. Jeden Morgen um 6.45 Uhr wartete sie auf das Auftreten der Schmerzen, um dann ihre Tabletten einzunehmen. Überdies hielt sie alle ihre Freunde und Kollegen darüber auf dem laufenden, wie sehr sie litt. Die Klientin wurde nun darauf hingewiesen, daß sie die Kopfschmerzen selbst wünschte und sie ganz gezielt als Mittel zur Erlangung von Aufmerksamkeit und Mitleid einsetzte. Dann wurde ihr behutsam klargemacht, daß sie lernen könne, diesen Mechanismus zu unterbrechen und daß sie sogar die Schmerzen von einem Punkt genau in der Mitte ihrer Stirn seitlich zu einer Stelle an der Schläfe hin verschieben könne. Durch dieses Verlagern des Schmerzes sollte ihr selbst klarwerden, daß sie in der Lage war, den Schmerz zu beherrschen. Am ersten Morgen erwachte sie um 6.30 Uhr und wartete im Bett auf die Kopfschmerzen. Als sie kamen, gelang es ihr, sie zu einer anderen Stelle ihres Kopfes hinzudenken. Sie hatte damit eine neue Entscheidung getroffen. Bald hatte sie gar keine Kopfschmerzen mehr.

Eine ständig wachsende Zahl von Beweisen spricht für die Auffassung, daß sogar Tumoren, Grippe, Arthritis, Herzbeschwerden, «Unfälle» 33sowie eine Reihe anderer Krankheiten, ja selbst Krebs, vom Betroffenen gewollt sind, obwohl sie seit jeher als Übel angesehen wurden, die den Menschen hinterrücks überfallen. Bei der Behandlung sogenannter «hoffnungsloser Fälle» sind Forscher zu dem Schluß gekommen, daß es ein Mittel zur Besserung des inneren Verfalls sein könnte, dem Patienten zu helfen, die Krankheit nicht zu wollen. In manchen Kulturen werden Schmerzen auf diese Art behandelt, indem nämlich der Mensch sein Gehirn vollkommen unter Kontrolle bringt, so daß Selbststeuerung gleichbedeutend wird mit der Steuerung des Gehirns.

Unser Gehirn, das aus zehn Billionen arbeitender Zellen besteht, verfügt über eine ausreichende Speicherkapazität zur Aufnahme von zehn neuen Informationen pro Sekunde. Die Informationsmenge, die das Gehirn vorsichtigen Schätzungen zufolge speichern kann, entspricht etwa 100 Billionen Wörtern, so daß jeder von uns offenkundig nur einen kleinen Bruchteil dieser Speicherkapazität ausnützt. Das Gehirn ist ein außerordentlich leistungsfähiges Instrument, das Ihnen ständig zur Verfügung steht und aus dem sich ungeahnter Nutzen ziehen läßt, obschon Sie sich das bisher nicht träumen ließen. Behalten Sie das im Auge, während Sie weiterlesen, und versuchen Sie, für neue Denkweisen offen zu sein.

Sie sollten eine solche Steuerung nicht vorschnell als «Quacksalberei» abtun. Die meisten Ärzte mußten sich schon mit Patienten beschäftigen, die eine körperliche Krankheit gewählt haben, für die man bisher keine medizinische Diagnose gibt. Nicht selten trifft man auf Menschen, die auf rätselhafte Weise krank werden, wenn sie sich vor ungünstige Umstände gestellt sehen, oder auf jemanden, für den es im Augenblick einfach «ausgeschlossen» ist, sich ins Bett zu legen, der die Auswirkungen der Krankheit, etwa Fieber, so lange zurückdrängt, bis das große Ereignis vorbei ist und er nachgeben kann.

Ich kenne den Fall eines sechsunddreißigjährigen Mannes, der in eine unerträgliche Ehe verstrickt war. Am 15. Januar beschloß er, seine Frau endgültig am 1. März zu verlassen. Am 28. Februar hatte er 39,9 Fieber und Anfälle von krampfartigem Erbrechen. Das Ganze entwickelte sich zum Zwangsritual; jedesmal, wenn er sich aufgerafft hatte, bekam er die Grippe oder eine schwere Magenverstimmung. Damit hatte er seine Entscheidung getroffen. Kranksein war bequemer als sich 34mit den mit der Trennung verbundenen Schuldgefühlen, den Ängsten und der Beschämung auseinanderzusetzen und sich auf Unbekanntes einzulassen.

Denken Sie an die Werbung im Fernsehen. «Ich bin Börsenmakler … Sie können sich denken, was dabei an Anspannung und Kopfschmerzen auf mich zukommt. Ich nehme diese Pille da, und sofort fühle ich mich wieder wohl.» Gemeint ist: Bei bestimmten Tätigkeiten (Lehrer, leitende Angestellte, Eltern) können Sie Ihr Befinden nicht selbst beeinflussen, also lassen Sie das doch andere für sich erledigen!

Jeden Tag erleben wir ein Trommelfeuer solcher Werbebotschaften. Was damit bezweckt werden soll ist klar. Wir sind nichts als hilflose Gefangene, die andere Menschen oder Instanzen brauchen, die für sie handeln. Quatsch. Nur Sie selbst können Ihre Lage verbessern oder Ihre Lebensfreude vermehren. An Ihnen ist es, die Steuerung Ihres eigenen Bewußtseins zu übernehmen und dann die neuen Gefühle und Verhaltensweisen einzuüben, für die Sie selbst sich entschieden haben.

Innere Lähmungen – wie man sie vermeidet

Behalten Sie, während Sie Ihre innere Fähigkeit abwägen, glücklich zu sein, den Begriff «Lähmung» im Auge. Daran erkennen Sie negative Gefühle in Ihrem Leben. Möglich, daß Ihnen Ärger, Feindseligkeit, Schüchternheit und ähnliche Gefühle zeitweise ganz nützlich vorkommen, so daß Sie lieber nicht auf sie verzichten möchten. Nehmen Sie in dieser Angelegenheit jedoch den Grad, bis zu dem das betreffende Gefühl Sie lähmt, als Richtschnur.

Innere Lähmung kann von leichter Unentschlossenheit und Zögern bis zu völliger Unfähigkeit zu handeln reichen. Hält Ärger Sie davor zurück, manches zu sagen, zu empfinden oder zu tun? Wenn das so ist, sind Sie gelähmt. Hindert Ihre Schüchternheit Sie daran, mit Leuten zusammenzutreffen, die Sie gerne kennenlernen möchten? Wenn ja, dann sind Sie gelähmt und lassen sich Erlebnisse entgehen, die Ihnen einfach zustehen. Haben Haß und Eifersucht Ihnen ein Magengeschwür oder zu hohen Blutdruck eingebracht? Können Sie sich deswegen nicht mehr richtig auf Ihre Arbeit konzentrieren? Haben Sie 35Einschlaf- oder Sexschwierigkeiten, weil Sie sich im Augenblick so schlecht fühlen? Alle diese Anzeichen deuten auf Lähmung. Lähmung: ein Zustand, schwach oder hochgradig, in dem Sie sich nicht in der Verfassung befinden, die Sie sich wünschen. Wenn Sie durch Gefühle in diesen Zustand versetzt werden, brauchen Sie nicht länger nach Gründen zu suchen, sie loszuwerden.

Die folgende kurze Prüfliste führt Beispiele aus verschiedenen Bereichen an. Sie erstrecken sich von leichten bis zu fortgeschrittenen Stadien der Unbeweglichkeit.

Sie können nicht liebevoll mit Ihrem Ehepartner und Ihren Kindern sprechen, obwohl Sie das möchten …

Sie sitzen den ganzen Tag zu Hause und brüten vor sich hin …

Sie sind außerstande, an einem Projekt zu arbeiten, das Sie interessiert …

Sie haben Lust, mit Ihrem Partner zu schlafen, tun es aber nicht …

Sie vernachlässigen Ihre Hobbies und Freizeitvergnügen und sehen aus einem zähen, zermürbenden Gefühl heraus auch von sonstigen vergnüglichen Aktivitäten ab …

Sie wagen es nicht, jemandes Bekanntschaft zu machen, den Sie anziehend finden …

Obwohl Sie erkennen, daß eine einfache Geste Ihre Beziehungen verbessern würde, vermeiden Sie es, mit einer bestimmten Person zu sprechen …

Sie können nicht schlafen, weil Sie etwas bedrückt …

Ihr Ärger hindert Sie am klaren Denken …

In Ihrem Gesicht zuckt es, oder Sie sind so nervös, daß Sie nicht so auf dem Posten sein können, wie Sie es wollen …

... weil Sie gelähmt sind.

Lähmungserscheinungen erstrecken sich über ein breites Spektrum. So gut wie alle negativen Gefühle verursachen Selbstbehinderung; das allein ist schon Grund genug, sie vollständig aus Ihrem Leben zu verbannen. Mag sein, daß Ihnen Gelegenheiten einfallen, wo ein negatives Gefühl etwas einbringt, so zum Beispiel, wenn Sie ein kleines Kind unkontrolliert anschreien, um ihm einzuschärfen, daß es nicht auf der Straße spielen soll. Wenn Sie des Nachdrucks halber die Stimme 36erheben und damit Ihren Zweck erreichen, dann ist Ihre Vorgehensweise gesund. Schreien Sie dagegen andere an, weil Sie innerlich durcheinander sind und nicht, weil Sie damit etwas Bestimmtes erreichen wollen, dann haben Sie sich selbst lahmgelegt und täten gut daran, Ihr Verhalten zu überdenken, um in Zukunft Ihr Kind von der Straße fernhalten zu können, ohne dabei Gefühle zu empfinden, die Sie selbst verletzen. – Mehr über Ärger und größere Beherrschung desselben lesen Sie im elften Kapitel.

Leben Sie im «Jetzt und Hier»!

Innere Lähmung, mag sie auch nur leicht sein, kann bekämpft werden, indem man lernt, in der Gegenwart zu leben. Das Leben voll ausschöpfen heißt vor allem, ganz im gegenwärtigen Augenblick und bewußt im «Jetzt» zu leben. Es ist schon so, daß Ihnen sonst kein Augenblick zur Verfügung steht. Es gibt nichts außer dem Jetzt und Hier; auch die Zukunft ist nichts anderes als ein gegenwärtiger Augenblick, den man lebt, wenn seine Zeit gekommen ist. Eines ist sicher: Sie können die Zukunft erst leben, wenn sie da ist. Das ist in gewisser Weise schon problematisch, da unsere Kultur sehr viel tut, um die Gegenwart herunterzuspielen. Spart für die Zukunft! Denkt an die Folgen! Sei kein Genußmensch! Denk an morgen! Sichert euren Lebensabend!

Die Flucht aus der Gegenwart ist in unserer Gesellschaft schon fast zur allgemeinen Krankheit geworden. Beständig werden wir darauf gedrillt, die Gegenwart der Zukunft zu opfern. Die logische Konsequenz dieser Haltung liegt nicht nur in dem Wegfall gegenwärtigen Genießens, sondern darin, daß uns das Glück auf immer durch die Finger rinnt. Bis die Zukunft endlich angebrochen ist, ist sie selbst schon wieder Gegenwart geworden, und wir müssen sie dazu nützen, uns erneut auf die Zukunft vorzubereiten. Das Glück kommt immer erst am folgenden Tag! Dadurch wird es für immer ungreifbar.

Das Übel der Abwendung vom gegebenen Augenblick nimmt vielfältige Formen an. Hier haben wir vier typische Beispiele solchen Fluchtverhaltens:

Frau Lieselotte Conrad beschließt, im Wald spazierenzugehen, um in vollen Zügen die Natur zu genießen und sich auf sich selbst zu 37besinnen. Als sie draußen ist, läßt sie ihre Gedanken umherwandern, denkt an die Arbeit, die sie eigentlich jetzt zu Hause tun müßte, die Kinder, das Einkaufen, das Haus, die Rechnungen; ist denn auch alles in Ordnung …? Dann wieder laufen ihre Gedanken voraus, zu all dem, was sie nachher erledigen muß, wenn sie zurückkehrt. Da rinnt ihr die Gegenwart über der Beschäftigung mit Vergangenem und Zukünftigem durch die Finger, und die seltene Gelegenheit, sich jetzt und hier an der natürlichen Umgebung zu freuen, ist verpaßt.

Frau Waltraud Weißsand macht Inselurlaub, um sich zu amüsieren. Sie verbringt die ganze Zeit nur mit Sonnenbaden – nicht aus Freude daran, die Sonne auf ihrer Haut zu spüren, sondern in Erwartung dessen, was ihre Bekannten zu Hause sagen werden, wenn sie braun wie eine «Exotin» zurückkehrt. Ihre Gedanken sind bei einem zukünftigen Augenblick; wenn dieser dann kommt, wird sie es beklagen, nicht wieder an den Strand gehen zu können, um sich zu sonnen. Wenn Ihnen unverständlich ist, wodurch unsere Gesellschaft zu dieser Haltung beiträgt, dann denken Sie an den Werbespruch einer Sonnenölfirma: «Benutzen Sie unser Ultrabraun, und die zu Hause ärgern sich noch viel mehr!»

Herr Ferdl Fromm leidet unter seiner Impotenz. Wenn er im gegenwärtigen Augenblick mit siner Frau zusammen ist, rennen seine Gedanken auf und davon zu irgendeinem vergangenen oder zukünftigen Ereignis, und die Gegenwart gleitet ihm aus den Händen. Gelingt es ihm endlich, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren; fängt er an, seine Frau zu umarmen – dann stellt er sich vor, sie wäre jemand anders, während sie sich in entsprechenden Phantasien über ihren abwesenden Geliebten ergeht.

Und Herr Jens Träumke, der still in einem Lehrbuch liest und sich alle Mühe gibt, bei der Sache zu bleiben? Er merkt auf einmal, daß sein Geist während der letzten drei Seiten selbständig auf Entdeckungsreisen gegangen ist. Keinen Gedanken hat er aufgenommen, sondern den Inhalt des Buches an sich abgleiten lassen, während seine Augen jedes Wort gelesen haben. Mechanisch hat er sich am Lesevorgang beteiligt, während seine gegenwärtigen Augenblicke durch die Erinnerung an den Film vom vorigen Abend oder das Bangen vor dem Abhören morgen beansprucht waren.

Der gegenwärtige Augenblick, dieser flüchtige Moment, in dem Sie 38leben, ist am schönsten, wenn Sie sich ganz darin verlieren. Kosten Sie jeden Augenblick aus bis zur Neige; lassen Sie das, was vergangen ist, beiseite und das Zukünftige in Ruhe auf sich zukommen. Nützen Sie den jeweiligen Augenblick, den einzigen, den Sie haben. Und denken Sie daran: Erinnern, Wünschen, Hoffen und Bedauern sind die zugleich gebräuchlichsten und gefährlichsten Taktiken, um sich aus der Gegenwart fortzustehlen.

Umgehen der Gegenwart führt nicht selten zu Überhöhung der Zukunft. An einem einzigartigen Augenblick in der Zukunft wird alles anders, alles wird sich zum Guten fügen, und Sie werden glücklich sein. Erst mit dem Erreichen dieses besonderen Zeitpunktes – mit einem Diplom, einer Heirat, einem Kind, einer Beförderung – wird das Leben dann richtig beginnen. Wenn das ersehnte Ereignis eintritt, bringt es allzuoft nur eine Enttäuschung. Es kann den Erwartungen, die Sie sich gemacht haben, gar nicht entsprechen. Erinnern Sie sich an Ihr erstes sexuelles Erlebnis: Nach der ganzen Warterei kamen statt der Jahrhundertorgasmen, statt der Stürme im untersten Seelengrund erst einmal die verwunderten Fragen, warum eigentlich überall so ein Trara um die Sache gemacht wurde und vielleicht auch das Gefühl: «Ist das denn alles?»

Wenn ein Ereignis die eigenen Erwartungen enttäuscht hat, kann man seine Niedergeschlagenheit natürlich durch den Aufbau eines neuen Ideals überwinden. Machen Sie diesen Teufelskreis nicht zu Ihrem Lebensprinzip. Unterbrechen Sie ihn jetzt gleich mit ein bißchen taktischer Augenblickserfüllung!

In «Die Gesandten» hat Henry James schon 1903 denselben Rat erteilt:

«Leben Sie so intensiv Sie können; alles andere ist ein Fehler. Was Sie im einzelnen tun, ist nicht so wichtig, solange Sie nur wirklich leben. Was haben Sie gehabt, wenn Sie von Ihrem Leben nichts gehabt haben? … Was man verpaßt hat, ist dahin, täuschen Sie sich da nicht … jede Zeit, von der man das Glück hat, sie noch zu erleben, ist die richtige Zeit … Leben Sie!»

Wenn Sie so wie Tolstois Iwan Iljitsch auf Ihr Leben zurückschauen, werden Sie entdecken, daß Sie selten etwas bereuen, was Sie getan haben. Was Sie nicht getan haben, quält Sie viel mehr. Daraus läßt sich nur eine Lehre ziehen: Tun Sie es in Zukunft! Entwickeln Sie eine 39Vorliebe für den gegebenen Augenblick. Halten Sie jede Sekunde Ihres Lebens fest und genießen Sie sie. Lassen Sie sich Ihre Gegenwart lieb und teuer sein. Sie auf selbstzerstörerische Weise zu gebrauchen, macht Sie immer zum Verlierer.

Auf jeder Seite dieses Buches geht es um dieses bewußte Erleben jedes einzelnen Augenblicks. Wer es versteht, den gegenwärtigen Augenblick zu ergreifen und wirklich etwas Einmaliges daraus zu machen, hat sich für ein freies, reiches und erfülltes Leben entschieden. Jeder von uns kann diese Wahl treffen.

Seelisches Wachstum bedeutet Leben

Ihr Streben, in Ihrem Leben soviel Glück und Erfüllung zu finden, wie Sie es sich wünschen, kann aus zwei unterschiedlichen Bedürfnissen herrühren. Die üblichere Form dieser Motivationen nennt man «Unvollkommenheits-» oder auch «Defizienzmotivation», während die zweite, gesündere Abart als «Wachstumsmotivation» bezeichnet wird.

Betrachten Sie einen Stein sorgfältig unter dem Mikroskop, und Sie werden feststellen, daß er sich nicht verändert. Wenn Sie dagegen ein Stück von einer Koralle auf die gleiche Weise untersuchen, dann entdecken Sie, daß es wächst und sich verändert. Schlußfolgerung: die Koralle ist lebendig, der Stein ist tot. Wie kann man eine tote Blume von einer lebenden unterscheiden? Die, die wächst, lebt. Der einzige Nachweis für Leben ist Wachstum! Das gilt auch auf psychologischem Gebiet. Solange Sie wachsen und sich weiterentwickeln, sind Sie lebendig. Wenn Sie nicht mehr wachsen, könnten Sie genausogut schon tot sein.

In Ihrem Belieben steht es, sich eher durch Ihr Bedürfnis zur Weiterentwicklung leiten zu lassen als durch den Wunsch, Ihre Mängel mühsam zu kitten. Es genügt zu erkennen, daß Sie immer noch weiterwachsen, Fortschritte machen, sich weiterentwickeln und entfalten können. Mit der Bevorzugung von innerer Unbeweglichkeit und schmerzhaften Gefühlen treffen Sie eine Anti-Wachstumsentscheidung. Wenn Sie wachstumsmotiviert sind, setzen Sie Ihre Lebensenergie dafür ein, glücklicher zu werden. Sie brauchen sich nicht zu bessern, 40weil Sie gesündigt haben oder sonstwie mit Mängeln behaftet sind.

Wenn Sie sich inneres Wachstum als Ziel gesetzt haben, ist persönliche Autonomie in jedem einzelnen Augenblick Ihres Lebens die natürliche Folge. Mit Autonomie ist gemeint, daß Sie selbst über Ihr Schicksal bestimmen; Sie reihen sich nicht ein unter die bemühten Streber, die passiv Angepaßten oder unter ein zwanghaftes Draufgängertum, sondern Sie entscheiden selbst über Ihr Leben und Ihre Welt. George Bernard Shaw sagt in «Frau Warrens Gewerbe» dazu:

«Man gibt immer den Verhältnissen die Schuld für das, was man ist. Ich glaube nicht an die Verhältnisse. Diejenigen, die in der Welt vorankommen, gehen hin und suchen sich die Verhältnisse, die sie wollen, und wenn sie sie nicht finden können, schaffen sie sie selbst.»

Doch vergessen Sie nicht, was zu Beginn dieses Kapitels gesagt worden ist. Es ist möglich, seine Denkweise, seine Empfindungen oder seine Lebensweise zu verändern, aber es ist in keinem Falle einfach. Lassen Sie uns einen Augenblick eine bestimmte Annahme verfolgen. Wenn Ihnen jemand die Pistole auf die Brust setzte und erklärte, er würde Sie umbringen, falls Sie nicht binnen eines Jahres eine schwierige Aufgabe – wie etwa die 1500 m in 4 Minuten und 30 Sekunden zu laufen oder einen perfekten Auerbachsalto, bei dem man nach dem Absprung vom Brett eine Drehung rückwärts um die Querachse machen muß, vom großen Sprungturm vorzuführen – vollbrächten, dann würden Sie sofort darangehen, nach einem festen Plan zu trainieren, eisern jeden Tag bis zum Zeitpunkt der Prüfung. Dabei würden Sie nicht nur Ihren Körper, sondern auch Ihren Geist schulen, weil er Ihrem Körper die Befehle erteilt. Es gäbe nun für Sie nichts außer Training, Training und noch einmal Training, und jede Versuchung, aufzugeben oder in Ihren Anstrengungen nachzulassen, würden Sie erfolgreich niederkämpfen. Schließlich würden Sie Ihr Können vorführen und damit Ihr Leben retten.

Ich habe diese kleine Geschichte natürlich nicht umsonst ausgesponnen. Kein Mensch erwartet, seinen Körper im Handumdrehen trainieren zu können, und trotzdem verlangen nicht wenige von sich, geistig so rasch zu reagieren. Schon mit einem einzigen Versuch, so meinen wir, müßte es möglich sein, sich eine neue Einstellung innerlich zu eigen zu machen.

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Wenn Sie den aufrichtigen Wunsch haben, neurotische Verhaltensformen abzulegen und Selbsterfüllung und Selbstbestimmung anzustreben, wenn Sie das Glück im gegenwärtigen Augenblick finden möchten, dann müssen Sie für das Umlernen Ihrer bisher erworbenen Denkgewohnheiten den gleichen unermüdlichen Einsatz aufbringen, mit dem Sie an das Erlernen jeder anderen komplizierten Aufgabe herangehen würden.

Um solche Erfüllung zu erreichen, müssen Sie sich selbst immer wieder einschärfen, daß Ihr Intellekt nur Ihre Sache ist und daß Sie Ihre Gefühle zu steuern vermögen. In den folgenden Kapiteln will Ihnen dieses Buch helfen, sich unmittelbar in Richtung Ihrer persönlichen Ziele auf den Weg zu machen. Es will Ihnen die notwendige Wiederholung solcher Sätze wie: Sie haben die Freiheit, sich zu entscheiden, und: Ihre gegenwärtigen Augenblicke sind zum Genießen da, erleichtern. Beginnen Sie sofort. Die einzige Voraussetzung ist Ihr Entschluß, in Zukunft die Verantwortung für sich selbst in die eigenen Hände zu nehmen.

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II.
Die erste Liebe

Ihr Selbstwert kann nicht durch andere bestätigt werden.
Sie sind wertvoll, weil Sie selbst behaupten, daß es so ist.
Von anderen abhängiger Wert ist Fremd-wert.

Möglicherweise leiden Sie unter sozialen Konflikten, die nicht einfach durch eine Spritze zu beheben sind. Mit großer Wahrscheinlichkeit zeigen sich auch bei Ihnen Vergiftungserscheinungen, deren Ursache die Geringschätzung ist. Das einzige bisher bekannte Heilmittel dagegen besteht in einer massiven Dosis Selbstliebe. Wie die meisten Menschen in unserer Gesellschaft sind Sie wahrscheinlich auch im Glauben aufgewachsen, daß es falsch sei, sich selbst zu lieben. Denk an die anderen!, so sagt uns die Gesellschaft. Liebe deinen Nächsten!, mahnt die Kirche. Wie dich selbst – daran scheint sich niemand zu erinnern, und doch ist es genau dieses Sichselbstlieben, was Sie erlernen müssen, wenn Ihr gegenwärtiges Dasein glücklich sein soll.

Als Kind haben Sie zu hören bekommen, daß die Selbstliebe, die Ihnen damals ganz natürlich erschien, mit Selbstsucht und Anmaßung verwandt sei. Sie haben gelernt, sich selbst, Ihre eigenen Bedürfnisse immer hintenanzustellen und erst an die anderen zu denken, weil das zeigte, was für ein «guter» Mensch Sie waren. Sie haben sich an Selbstlosigkeit gewöhnt und wurden mit Verhaltensregeln gefüttert wie «Laß doch deine Cousins auch mit deinen Sachen spielen!» Daß es sich dabei um Ihre geliebten Besitztümer und Schätze handelte, ja daß Ihre Eltern ihre Erwachsenenspielzeuge vielleicht gar nicht mit anderen teilen mochten, zählte überhaupt nicht. Womöglich hieß es sogar: «Kinder sieht man, aber man hört sie nicht» oder «Du mußt wissen, was sich für dich gehört.»

Für Kinder ist es selbstverständlich, sich selbst schön und schrecklich wichtig zu finden, aber spätestens in der Adoleszenz, der Entwicklungsperiode 43zwischen Pubertät und Erwachsenenalter, haben sie die Forderungen, die ihre Umwelt an sie stellt, verinnerlicht. Selbstzweifel stehen in hoher Blüte und werden im Laufe der Jahre noch weiter verstärkt. Man ist ja schließlich nicht auf der Welt, um sich selbst zu lieben. Was sollen denn die anderen von einem denken?

Das alles sind schwache und nicht einmal bösartig gemeinte Andeutungen, aber sie reichen aus, den einzelnen bei der Stange zu halten. Ob von den Eltern oder nächsten Verwandten, ob in der Schule, Kirche oder bei Freunden, überall lernt das Kind die kleinen gesellschaftlichen Artigkeiten, die für die Erwachsenenwelt kennzeichnend sind. Kinder würden sich unter ihresgleichen nie so benehmen, höchstens den Älteren zu Gefallen. Sag immer bitte und danke, mach schön einen Knicks, steh auf, wenn Erwachsene ins Zimmer kommen, frag erst, bevor du den gemeinsamen Mittagstisch verlassen willst, nimm das ewige Wangenzwicken und Kopftätscheln ruhig hin! Dahinter steckt unverkennbar die Lehre: Erwachsene sind wichtig; Kinder zählen nicht. Andere sind bedeutend; du bist unbedeutend. Als oberste Schlußfolgerung ergab sich daraus: Vertrau nicht auf dein eigenes Urteil, und im Zeichen der «Höflichkeit» lag ein ganzes Bündel Verstärker dafür bereit. Als «Manieren» getarnt halfen diese Regeln mit, Ihnen beizubringen, Urteile anderer auf Kosten Ihrer eigenen Werte zu verinnerlichen. Es kann nicht weiter verwundern, daß diese Fragen und selbstverleugnenden Definitionen unverändert ins Erwachsenenalter hinübertransportiert wurden. Wie machen die Selbstzweifel sich nun sonst noch bemerkbar? Gut möglich, daß Sie es auf dem wichtigen Gebiet der Liebe zu anderen nicht ganz leicht haben. Anderen Liebe zu schenken, steht in direkter Beziehung dazu, wieviel Liebe Sie für sich selbst übrig haben.

Was Liebe auch bedeuten kann

Das Wort «Liebe» hat so viele Definitionen, wie es Menschen gibt, um es zu definieren. Probieren Sie es einmal mit dem folgenden Versuch: Liebe ist die Fähigkeit und Bereitschaft, den Menschen, an denen uns gelegen ist, die Freiheit zu lassen, zu sein, was sie sein wollen, gleichgültig, ob wir uns damit identifizieren können oder nicht. Das scheint als 44Definition brauchbar; leider sind offenbar jedoch nur wenige in der Lage, sich daran zu halten. Wie können Sie so weit kommen, die anderen sein zu lassen, was sie wollen, ohne darauf zu bestehen, daß sie Ihre Erwartungen erfüllen? Ganz einfach. Indem Sie sich selbst lieben! Indem Sie sich selbst als wichtig, wertvoll und schön empfinden. Haben Sie erst einmal erkannt, wie wichtig als Person Sie in Wirklichkeit sind, dann brauchen Sie sich Ihren persönlichen Wert oder Ihre Überzeugungen nicht mehr dadurch bestätigen zu lassen, daß andere in ihrem Verhalten Ihren Vorstellungen entsprechen. Wenn Sie Ihrer selbst sicher sind, verspüren Sie weder den Wunsch noch das Bedürfnis, daß die anderen genauso sein sollten wie Sie. Einmal, weil Sie selbst einzigartig sind; dann aber auch deswegen, weil das die anderen ihrer Einzigartigkeit berauben würde, und was Sie an ihnen lieben, sind ja gerade die Züge, die ihre Besonderheit und Andersartigkeit ausmachen. Allmählich beginnen Ihre Bemühungen Konturen anzunehmen. Es fällt Ihnen immer leichter, sich selbst zu lieben. Auf einmal können Sie auch andere lieben, ihnen innerlich etwas geben und etwas für sie tun, eben weil Sie sich zuvor um sich selbst gekümmert haben. Ihr Geben hat jetzt nichts Vorgetäuschtes mehr. Sie geben nicht, weil Sie von anderen Dankbarkeit erwarten oder hoffen, einen bestimmten Nutzen davon zu haben, sondern wegen der Freude, die Sie dabei empfinden, wirklich zu helfen und zu lieben.

Solange Sie für sich selbst wertlos sind, solange Sie sich selbst nicht zu lieben vermögen, können Sie nicht wirklich geben. Wie sollte jemand, der wertlos ist, anderen Liebe schenken? Was wäre solche Liebe schon wert? Und wenn Sie schon keine Liebe geben können, können Sie erst recht keine empfangen. Was ist die Liebe wert, die von einem wertlosen Menschen kommt? Alles Geben und Nehmen, das ganze Drum und Dran der Liebe hat ein geliebtes eigenes Selbst ohne jede Abstriche zur Voraussetzung.

Nehmen Sie Noah, einen Mann in mittleren Jahren, der von sich behauptete, seine Frau und seine Kinder aufrichtig zu lieben. Als Zeichen seiner Zuneigung machte er ihnen teure Geschenke, fuhr mit ihnen luxuriös in Ferien und vergaß auf Geschäftsreisen nie, seine Briefe mit «In Liebe …» zu beenden. Dennoch konnte Noah es nicht über sich bringen, seiner Frau oder seinen Kindern auch wirklich zu sagen, daß er sie liebe. Mit seinen Eltern, die er über alle Maßen gern 45hatte, bestand das gleiche Problem. Noah hatte vor, die Worte zu sagen; immer wieder fuhren sie ihm durch den Kopf, aber jedesmal, wenn er zu einem «Ich liebe dich» ansetzte, blieb ihm das Wort im Halse stecken.

Seine Liebe zu offenbaren, bedeutete für Noah, seine eigene Identität aufs Spiel zu setzen. Sagte er: «Ich liebe dich», dann mußte der andere mit Sicherheit antworten: «Ich liebe dich auch, Noah». Seiner Liebeserklärung mußte also eine Bestätigung seines Selbstwertes folgen. Das Risiko dieser Worte war für Noah zu hoch, denn würden sie nicht erwidert, dann wäre sein Wert grundsätzlich in Frage gestellt. Könnte Noah nun aber umgekehrt davon ausgehen, er selbst sei liebenswert, dann käme ihm auch das «Ich liebe dich» leichter über die Lippen. Bliebe das ersehnte «Ich liebe dich auch, Noah» aus, dann würde sein Selbstwertgefühl dadurch überhaupt nicht angegriffen, weil es ja von Anfang an intakt war. Ob er auch in der Tat wiedergeliebt würde, wäre dann nicht mehr Noahs Problem, sondern das seiner Frau oder der jeweiligen Person, die er gerade liebte. Gewiß wollte er die Gegenliebe des anderen immer noch, aber nun hinge nicht mehr sein gesamtes Selbstwertgefühl davon ab.

Von Ihrer Fähigkeit zur Selbstliebe her können Sie alle auf sich selbst bezogenen Gefühle überprüfen. Lassen Sie sich nicht darin irremachen, daß Selbsthaß nie und unter keinen Umständen gesünder ist als Selbstliebe. Entwickeln Sie positive Gefühle, anstatt sich selbst zu hassen! Auch wenn Sie etwas getan haben, was Sie selbst verabscheuen, lähmt und verletzt Selbsthaß Sie nur. Lernen Sie aus Ihren Fehlern, nehmen Sie sich vor, sie nicht zu wiederholen, aber verknüpfen Sie sie nicht mit Ihrer Selbstachtung.

Darin liegt der Kern der Liebe zu sich selbst wie auch zu anderen. Verwechseln Sie niemals Ihren Selbstwert – er ist eine unveränderliche Grundtatsache – mit Ihrem Verhalten oder mit dem Verhalten anderer Ihnen gegenüber. Auch hierfür gilt: es ist nicht ganz leicht. Die Einflüsse der Umwelt sind übermächtig. «Du bist ein böser Junge» heißt es, anstatt «Du hast etwas Böses getan». «Wenn du dich so benimmst, mag dich deine Mutti nicht mehr» sagen wir, im Gegensatz zu «Mutti mag dein Benehmen nicht». Vielleicht haben Sie selbst daraus geschlossen: «Sie kann mich nicht ausstehen, ich muß ganz unleidlich sein» und nicht: «Sie mag mich nicht. Das ist ihre Sache, es gefällt mir zwar nicht, 46aber ich bin trotzdem immer noch genauso wichtig.» R. D. Laings «Knoten» faßt den Prozeß der Verinnerlichung fremder Gedanken und ihrer Gleichsetzung mit dem eigenen Selbstwert so zusammen:

«Meine Mutter liebt mich.
Ich fühle mich gut.
Ich fühle mich gut, weil sie mich liebt.

Ich bin gut, weil ich mich gut fühle.
Ich fühle mich gut, weil ich gut bin.
Meine Mutter liebt mich, weil ich gut bin.

Meine Mutter liebt mich nicht.
Ich fühle mich schlecht.
Ich fühle mich schlecht, weil sie mich nicht liebt.
Ich bin schlecht, weil ich mich schlecht fühle.
Ich fühle mich schlecht, weil ich schlecht bin.
Ich bin schlecht, weil sie mich nicht liebt.
Sie liebt mich nicht, weil ich schlecht bin.»[1]

Die Denkgewohnheiten aus der Kindheit lassen sich nicht so leicht abschütteln. So wird Ihr Selbstbild möglicherweise immer noch von dem bestimmt, wie andere Sie wahrnehmen. Zwar haben Sie Ihr Selbstbild ursprünglich von den Ansichten der Erwachsenen abgeleitet, doch brauchen Sie es deswegen noch lange nicht bis an Ihr Lebensende mit sich herumzutragen. Selbstverständlich macht es Mühe, die alten Fesseln zu lösen und noch nicht verheilte Wunden bloßzulegen, doch ist es im Hinblick auf die Konsequenzen sogar noch härter, weiter daran festzuhalten. Mit Hilfe von geistigem Training werden Sie jedoch Entscheidungen zur Selbstliebe treffen können, über die Sie selbst verblüfft und erstaunt sein werden.

Was für Leute sind das denn, die fähig sind, andere zu lieben? Verhalten sie sich selbstzerstörerisch? Niemals. Setzen sie sich selbst herab und verkröchen sie sich am liebsten in die dunkelste Ecke? Mitnichten.

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Die Fortschritte im Geben und Empfangen von Liebe fangen bei Ihnen selbst an, mit einem Schwur, sämtlichen mit niedriger Selbsteinschätzung zusammenhängenden Verhaltensweisen, die Ihnen zur festen Gewohnheit geworden sind, ein Ende zu machen!

Die ersten Schritte in Richtung Selbstbejahung

Als erstes müssen Sie die Legende über Bord werfen, Sie besäßen nur eine einzige Selbstauffassung, die unwandelbar entweder positiv oder negativ sei. Sie machen sich im Gegenteil zahlreiche Bilder von sich selbst, die von Augenblick zu Augenblick variieren können. Wenn man Sie fragte: «Mögen Sie sich?» wären Sie vielleicht geneigt, alle Ihre negativen Gedanken über sich zu einem pauschalen «Nein» zusammenzufassen. Erst durch Zerlegen Ihrer Abneigung in einzelne konkrete Punkte schaffen Sie sich klare Ziele, auf die Sie hinarbeiten können.

Sie verfügen über eine gefühlsmäßige Einschätzung Ihrer selbst in körperlicher, intellektueller, sozialer und emotionaler Hinsicht. Sie haben eine bestimmte Meinung darüber, was Sie auf den Gebieten der Musik, des Sports, der Kunst, bei Handwerksarbeiten, beim Schreiben und so weiter leisten. Ihre inneren Selbstporträts sind so zahlreich wie Ihre Aktivitäten, und doch handelt es sich bei all den verschiedenen Verhaltensformen stets um Sie, den Menschen, den Sie entweder akzeptieren oder ablehnen. Keinesfalls darf Ihr Selbstwert, dieser wohlwollende stets gegenwärtige Schatten, Ihr Berater in Sachen Wohlergehen und persönliche Unabhängigkeit, von Ihrer Selbsteinschätzung abhängen. Sie leben, Sie sind ein Mensch – weiter brauchen Sie nichts. Sie selbst bestimmen über Ihren Wert, ohne irgend jemandem darüber Rechenschaft zu schulden. Ihr Wertvollsein, eine Grundtatsache, hat wiederum nichts mit Ihrem Verhalten oder mit Ihren Gefühlen zu tun. Mag Ihnen auch Ihr Verhalten bei einem bestimmten Anlaß nicht zusagen, so berührt das doch Ihren Selbstwert nicht. Sie können die Entscheidung treffen, für sich selbst immer wertvoll zu sein und dann die Arbeit an Ihren Selbstbildern aufnehmen.

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Lernen Sie, Ihren Körper zu lieben

Mit Ihrem Körper fängt alles an. Mögen Sie ihn? Ist Ihre Antwort «Nein», dann versuchen Sie, dieses Nein in einzelne Bestandteile aufzugliedern. Stellen Sie eine Liste der Punkte auf, die Ihnen nicht annehmbar erscheinen. Mit dem Kopf beginnend: Ihr Haar, Ihre Stirn, Augen, Lider, Wangen … Mögen Sie Ihren Mund, Ihre Nase, Zähne und Hals? Wie steht es mit Ihren Armen, den Fingern, mit Brust und Bauch? Dehnen Sie die Liste ruhig aus. Beziehen Sie auch die inneren Organe ein – Ihre Nieren, die Milz, die Arterien und das Oberschenkelbein. Gehen Sie dann zu den verborgeneren Teilen über, aus denen Sie bestehen. Was hat es auf sich mit Ihrem Sulcus Rolandi, mit Cochlea und Pinna, Nebennieren und Uvula? Die Liste wird sehr lang werden, wenn Sie wirklich nichts außer acht lassen.

Es ist nicht so, daß Sie einen schönen Körper besäßen; Sie sind Ihr Körper; ihn nicht zu mögen, heißt in Wirklichkeit, sich nicht als menschliches Wesen zu akzeptieren.

Nehmen wir an, es gäbe tatsächlich einige körperliche Eigenschaften, die Ihnen absolut nicht zusagen. Sind die betreffenden Körperteile veränderbar, dann nehmen Sie ihre Veränderung unter Ihre Ziele auf. Falls Ihr Bauch zu dick ist oder Ihre Haarfarbe nicht zu Ihnen paßt, steht Ihnen die Möglichkeit offen, das als Ergebnis einer in einem zurückliegenden Augenblick getroffenen Entscheidung anzusehen, die Sie jetzt durch einen neuen Entschluß revidieren können. Die Körperteile aber, die Ihnen mißfallen und an denen nichts zu ändern ist – zu lange Beine, zu kleine Augen, zu große oder zu kleine Brüste –, können Sie immer noch mit anderen Augen ansehen. Gar nichts ist zu … was weiß ich, und lange Beine sind nicht besser oder schlechter als füllige Haare oder eine Glatze. Sie haben damit einfach nur das im Augenblick in unserer Gesellschaft geltende Schönheitsideal übernommen. Lassen Sie sich nicht von anderen vorschreiben, was Sie anziehend finden! Fassen Sie den Beschluß, Ihr körperliches Selbst rundherum gern zu haben, erklären Sie es für sich als wertvoll und anziehend und weisen Sie so alle Vergleiche und fremden Meinungen zurück. Sie bestimmen, was gefällt, und lassen alle Selbstablehnung in der Vergangenheit hinter sich.

Sie sind ein Mensch, und das Menschsein bringt gewisse Gerüche, 49Geräusche und Haarwuchs an bestimmten Stellen mit sich. Trotzdem werden von Gesellschaft und Industrie gewisse Ansichten über das körperliche Dasein des Menschen verbreitet. Schämen Sie sich über diese menschlichen Eigenschaften, so heißt es da. Lernen Sie, manche Dinge zu verstecken – am besten, Ihr wirkliches Ich hinter unseren Produkten zu verbergen! Akzeptieren Sie sich nicht so, wie Sie sind; verstecken Sie Ihr wirkliches Selbst!

Sie können keinen Tag fernsehen, ohne diesen Appell zu hören. Täglich wieder will Ihnen die Werbung weismachen, die natürlichen Gerüche in Mund und Achselhöhle, der Haut, der Füße und namentlich der Genitalien seien verachtenswert. «Nehmen Sie unser Produkt und Sie fühlen sich wieder wirklich lebendig und natürlich!» Als ob Sie an sich unnatürlich wären und sich unablässig in kosmetische Düfte hüllen müßten, um sich selbst besser zu gefallen! Also verwenden Sie für jede Körperöffnung das angemessen duftende Deodorant, weil Sie einen Teil Ihrer selbst, einen Körperteil, den alle Menschen haben, nicht akzeptieren können.

Ich kenne einen zweiunddreißigjährigen Mann, Frank, der es gelernt hat, alle seine normalen Körperfunktionen als abstoßend und unanständig zu betrachten und abzulehnen. Franks zwanghafte körperliche Sauberkeit geht so weit, daß er sich schon beim geringsten Schwitzen unbehaglich fühlt, und auch von seiner Frau und seinen Kindern erwartet er die gleiche peinliche Sauberkeit. Nach dem Rasenmähen oder nach einem Tennismatch eilt er als erstes unter die Dusche, um sich sofort von allen unangenehmen Gerüchen zu befreien. Dazu kommt, daß Sex für Frank nur dann möglich ist, wenn sowohl er als auch seine Frau vorher und nachher duschen. Er vermag weder seine eigenen normalen Körpergerüche zu akzeptieren noch mit anderen zusammen zu leben, die sich selbst mehr annehmen. Für das Badezimmer verwendet Frank ein Spray, für seinen eigenen ständigen Wohlgeruch eine Vielzahl kosmetischer Produkte; er befürchtet, es könne ihn vielleicht einer nicht mehr gern haben, sobald er menschlich würde und dementsprechend röche. Frank ist dahingekommen, seine natürlichen Körperfunktionen und -gerüche ganz abzulehnen. Er hat Haltungen übernommen, die die Ablehnung seiner eigenen Person widerspiegeln, denn er kann seinen Körper nicht mehr im natürlichen Zustand belassen, ohne darüber in Verlegenheit zu geraten oder sich zu entschuldigen. 50Aber ein Menschsein ohne etliche natürliche Gerüche gibt es nicht; wer sich bemüht, sich zu lieben und zu bejahen, stört sich keinesfalls an seinem natürlichen Selbst. Wenn Frank einmal ganz aufrichtig wäre und die erworbenen selbstablehnenden Anstöße auslöschte, gelänge es ihm vielleicht sogar zuzugeben, daß er sich an seinem Körper und den guten natürlichen Gerüchen, die er hervorzubringen vermag, freuen kann. Während er diese Gerüche immer noch für sich behalten wollte, wäre er doch zumindest imstande, sie bei sich selbst zu akzeptieren und sich davon zu überzeugen, daß er sie in Wirklichkeit mag, und er brauchte sich anderen gegenüber nicht mehr dafür zu schämen.

Selbstbejahung bedeutet, Ihr ganzes physisches Selbst zu mögen und dem kulturellen Reinlichkeitszwang genauso zu widerstehen wie dem Gebot, Ihren Körper da, wo er nicht den kosmetischen Normen entspricht, allerhöchstens noch zu tolerieren. Nicht sich hinfort nach Pfauenart zu spreizen ist die Losung, sondern zu lernen, privates Vergnügen daran zu finden, Sie selbst zu sein.

Viele Frauen richten sich nach den Signalen unserer Kultur und benehmen sich in bezug auf ihren Körper so, wie es von ihnen erwartet wird. Rasieren Sie Ihre Beine, Ihre Achselhöhlen; halten Sie sich mit Hilfe von Deodorants am ganzen Körper frisch; parfümieren Sie sich mit fremden Düften; töten Sie Ihre Mundbakterien ab; schminken Sie sich Augen, Lippen, Wangen; polstern Sie Ihren Büstenhalter; verwenden Sie ein Spray mit der passenden Duftnote für Ihre Genitalien; bemalen Sie Ihre Fingernägel! Implizit heißt das: Ihr natürliches, wesentlich menschliches Selbst hat etwas Unerfreuliches an sich; anziehend werden Sie erst, wenn Sie künstlich werden. Das ist das Traurigste an der ganzen Sache, daß als Endergebnis ein vorgetäuschtes Selbst an die Stelle Ihres natürlichen Selbst tritt, mit dem Sie doch den größten Teil Ihres Lebens verbringen. Sie werden dazu ermutigt, dieses schöne Selbst abzulehnen. Daß die Werbeleute Sie dazu ermuntern, liegt im Hinblick auf die Profite, die die Industrie damit machen will, auf der Hand; warum Sie allerdings auch hingehen und die Waren kaufen, ist weniger verständlich, wenn man bedenkt, daß Sie damit die Entscheidung treffen, Ihr wirkliches Selbst zu verleugnen. Sie können aber damit Schluß machen, Ihr schönes, natürliches Selbst zu verstecken. Wenn Sie dann noch irgendwelche kosmetischen Hilfsmittel benutzen, 51geschieht es nicht mehr aus Abneigung gegen das, was Sie zudecken, sondern aus Freude am Sichverändern und zu Ihrer persönlichen Erfüllung. – Es ist nicht leicht, auf diesem Gebiet sich selbst gegenüber ehrlich zu sein. Wir brauchen Zeit, um unterscheiden zu lernen, was uns die Werbeindustrie nur eingeredet hat und was uns wirklich gefällt.

Positivere Selbstbilder

Die gleiche Entscheidung können Sie für alle Ihre Selbstbilder treffen. So können Sie auch beschließen, sich für intelligent zu halten, indem Sie Ihren ganz persönlichen Maßstab an sich anlegen. Tatsächlich gilt: Je glücklicher Sie sich selbst machen können, desto intelligenter sind Sie. Schwächen, die Sie auf manchen Gebieten haben, zum Beispiel in Algebra, in der Rechtschreibung oder beim Formulieren, sind nichts anderes als die natürliche Folge von Entscheidungen, die Sie bisher getroffen haben. Sollten Sie sich jedoch entschließen, auf einem dieser Gebiete genügend lange zu üben, dann würden Sie zweifellos bessere Leistungen erzielen. Wenn Sie sich selbst nicht als sonderlich intelligenten Menschen ansehen, dann denken Sie daran zurück, was im ersten Kapitel gesagt worden ist. Der Grund, weshalb Sie sich selbst unterschätzen, liegt darin, daß Sie sich das haben einreden lassen und daß Sie sich im Hinblick auf bestimmte schulische Anforderungen mit anderen vergleichen. Vielleicht überrascht es Sie, das zu erfahren, aber: Sie können wählen, so intelligent zu sein, wie Sie wollen. Begabung ist wirklich mehr eine Funktion der Zeit als eine angeborene Eigenschaft. Diese Überzeugung stützt sich unter anderem auf die Klassennormen der standardisierten Leistungstests. Diese Normen zeigen, daß die Punktzahl, die die besten Schüler auf einer bestimmten Stufe erzielen, von der Mehrzahl der Schüler auf einer späteren Stufe ebenfalls erreicht wird. Aus weiteren Studien geht hervor, daß zwar die meisten Schüler am Ende jede Aufgabe bewältigen, einige jedoch wesentlich weniger Zeit brauchen.[2]

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Diejenigen, die mehr Zeit aufwenden müssen, um sich eine Fertigkeit vollkommen anzueignen, werden jedoch nicht selten als «unbegabt» oder sogar «zurückgeblieben» abgestempelt. Hören Sie, was John Carroll in seinem Artikel «Ein Modell schulischen Lernens» in der Zeitschrift Teachers College Record zu diesem Punkt anführt:

«Begabung ist der Zeitaufwand, den der Lernende benötigt, um eine Aufgabe zu bewältigen. In dieser Formulierung enthalten ist die Annahme, daß bei ausreichender Zeit alle Schüler die Bewältigung einer Aufgabe erreichen können.»

Wenn Sie wollten, könnten Sie also mit genügend Zeit und Mühe fast jede akademische Disziplin meistern. Aber Sie haben diese Wahl aus guten Gründen nicht getroffen. Warum sollten Sie Ihre auf das Jetzt gerichtete Energie darauf verwenden, für Sie abseitige Probleme zu lösen oder Dinge zu lernen, die Sie gar nicht interessieren? Glücklich sein, intensiv leben und lieben sind viel höhere Ziele. Sie müssen sich nur darüber im klaren sein, daß Intelligenz weder angeboren noch sonstwie verliehen wird. Sie sind genauso helle, wie Sie sein wollen. Allerdings, hinterher dann mit dem Grad an Gescheitheit nicht zufrieden zu sein, den Sie sich ausgesucht haben, ist reine Selbstverachtung, die sich für Ihr Leben nur schädlich auswirken kann.

Für alle in Ihrem Gehirn gespeicherten Abbildungen Ihrer selbst gilt das Argument, daß Selbstbilder wählbar sind. Auch im Umgang mit anderen sind Sie so gewandt, wie Sie es zu sein wünschen. Wenn Ihnen die Art, wie Sie sich in Gesellschaft bewegen, nicht zusagt, steht es Ihnen frei, sie zu verändern, aber machen Sie nicht den Fehler, sie mit Ihrem Selbstwert zu verwechseln. Ebenso sind Ihre künstlerischen, handwerklichen, musikalischen und sonstigen Fähigkeiten weitgehend das Ergebnis Ihrer Entscheidungen; mit Ihrem Wert als Person haben sie nichts zu tun. (Das vierte Kapitel behandelt ausführlich Ihre Selbstbeschreibung und die Gründe, aus denen Sie sie gewählt haben.) Vom gleichen Ausgangspunkt her wurde im vorangegangenen Kapitel versucht, den Beweis dafür zu erbringen, daß auch Ihr Gefühlsleben abhängig von den Entscheidungen ist, die Sie treffen. In Sachen Selbstbejahung auf der Grundlage dessen, was Sie für sich selbst für geeignet halten, können Sie nun eine Entscheidung fällen. Es kann ein sehr vergnügliches Unternehmen werden, die Dinge, woran es bei Ihnen 53hapert, in Ordnung zu bringen. Nichts auf der Welt spricht dafür, sich selbst für wertlos zu halten, nur weil Sie ein paar Sachen bei sich verbessern wollen.

Abneigung gegen sich selbst kann viele Formen annehmen. Mag sein, daß Sie sich auf die eine oder andere Weise in ein Verhalten verstrickt haben, das Sie selbst herabsetzt. Hier eine kurze Aufstellung typischer wiederkehrender Verhaltensweisen, die zu dieser Kategorie des Eigenvetos gehören.

Ich arbeitete einmal mit einer jungen Frau, die recht attraktiv und bei den Männern offensichtlich sehr begehrt war. Shirley behauptete jedoch steif und fest, alle ihre Beziehungen nähmen immer ein klägliches Ende, und obwohl sie liebend gerne heiraten würde, hätte sie nie Gelegenheit dazu gehabt. Im Lauf der Beratung stellte sich heraus, daß Shirley jede ihrer Beziehungen ruinierte, ohne es selbst zu wissen. Sprach ihr ein junger Mann von Zuneigung und Liebe, dann entgegnete eine Stimme in Shirleys Kopf: Das sagt er ja nur, weil er weiß, wie gern ich das hören möchte! Im Grunde wartete Shirley immer nur darauf, daß ihr Wert bestritten würde. Da ihr Selbstliebe fehlte, wies sie die Versuche anderer, sie zu lieben, zurück. Warum tat sie das? Weil sie von vornherein überzeugt war, daß sie nicht liebenswert sei; durch ihre Abweisungsmechanismen drehte sie sich endlos im Kreis und bestätigte sich auf diese Weise ihren Unwert nur immer von neuem.

Mögen einzelne Punkte der obigen Liste auch wie bloße Kleinigkeiten aussehen, so sind sie dennoch winzige Anzeichen von Selbstablehnung. Wenn Sie sich aufopfern und es nie übers Herz bringen, sich einmal außer der Reihe etwas zu gönnen – was noch dazu meistens nicht mehr ist als statt Hackfleisch Nackenkotelett einzukaufen –, 55dann deswegen, weil Sie meinen, Sie hätten das bessere Stück Fleisch nicht verdient. Vielleicht ist Ihnen beigebracht worden, man müsse ein Kompliment aus Höflichkeit zurückweisen, vielleicht hat man Ihnen auch das Gefühl gegeben, Sie seien wirklich nicht sehr attraktiv. Jedenfalls haben Sie Ihre Lektion gelernt. Selbstverleugnung ist Ihnen inzwischen zur zweiten Natur geworden. In Gesprächen und im alltäglichen Leben zeigt sie sich immer wieder in zahlreichen Beispielen. Jedesmal, wenn Sie sich auf irgendeine Weise selbst herabsetzen, rufen Sie wieder das alte Schreckgespenst auf den Plan, das andere Ihnen aufgehalst haben. Sie nehmen sich jede Möglichkeit, in Ihrem Leben Liebe zu genießen, sich selbst und andere zu lieben. Gewiß sind Sie zu wertvoll, um sich selber ein Leben lang herabzusetzen!

Sich selbst bejahen bedeutet, auf Klagen zu verzichten

Selbstliebe verlangt, daß Sie sich als wertvollen Menschen bejahen, weil Sie sich so entschieden haben. Bejahung bedeutet auch das Unterlassen von Klagen. Gesunde Menschen beklagen sich nicht, am allerwenigsten über die Härte der Steine, die Wolken am Himmel oder die Temperatur des Eises. Bejahung heißt, nicht zu klagen, und Glücklichsein heißt, sich nicht über Dinge aufzuhalten, die man nicht ändern kann. Anderen mitzuteilen, was Sie an sich selbst nicht leiden können, wird Ihre Unzufriedenheit kaum mindern, denn in den wenigsten Fällen haben Ihre Zuhörer eine andere Möglichkeit, als Ihnen zu widersprechen, und das wollen Sie ja nicht glauben. Genauso wie es nichts nützt, sich seiner Umgebung gegenüber zu beklagen, ist auch keinem damit gedient, wenn Sie es anderen erlauben, ihr eigenes Gepäck an Selbstmitleid und Elend bei Ihnen abzuladen. Im allgemeinen wird eine einfache Frage genügen, um diesem sinnlosen und unangenehmen Verhalten ein Ende zu machen: «Warum erzählen Sie mir das?», oder auch «Kann ich Ihnen in dieser Sache irgendwie helfen?» Wenn Sie sich das auch für sich selbst überlegen, wird Ihnen Ihr eigenes Klagen bald als höchste Torheit vorkommen. Es ist verschwendete Zeit, die Sie gewinnbringender für Selbstliebeaktionen verwenden können, etwa für stummes Selbstlob, oder dazu, einem anderen Menschen auf dem Weg zu seiner Erfüllung zu helfen.

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Zwei Gelegenheiten gibt es auf der Welt, bei denen Sichbeklagen am allerwenigsten geschätzt wird, nämlich wenn Sie anderen mitteilen, daß Sie müde sind und wenn Sie verkünden, Sie fühlten sich nicht wohl. Im Falle von Müdigkeit stehen Ihnen mehrere Möglichkeiten offen, aber sich irgendeinem armen Wesen gegenüber, von einem geliebten ganz zu schweigen, darüber auszulassen, ist reiner Mißbrauch. Ihre Müdigkeit wird dadurch jedenfalls nicht verschwinden. Die gleiche Logik gilt für das «Sich nicht wohl fühlen».

Nichts soll hier dagegen gesagt werden, andere wissen zu lassen, wie Sie sich fühlen, wenn sie Ihnen auf noch so geringfügige Weise helfen können. Worum es geht, ist das Klagen vor anderen, die nichts tun können, als Ihr Jammern zu ertragen. Wenn Sie wirklich darum bemüht sind, sich selbst mehr zu lieben, werden Sie bei Schmerz und Unbehagen überdies zunächst selbst dagegen angehen wollen und nicht nach jemandem suchen, um sich anzulehnen und Ihre Last zu teilen.

Sich über sich selbst beklagen ist nutzlos und hindert Sie daran, Ihr Leben ganz zu leben. Es fördert Selbstmitleid und lähmt Sie in Ihren Bemühungen, Liebe zu geben und zu empfangen. Dazu verringert es Ihre Aussichten auf bessere Liebesbeziehungen und mehr zwischenmenschliche Kontakte. Das Wehklagen mag Ihnen zwar Aufmerksamkeit sichern, doch wird sich solches Bemerktwerden in Bahnen abspielen, die Ihr eigenes Wohlbefinden untergraben.

Einsicht in das Wesen von Selbstliebe und in die Mechanismen, die zu den «alltäglichen» Klagen führen, ist nötig, will man sich selbst klaglos akzeptieren. Wenn Sie aufrichtig sagen können «Ich liebe mich», dann gibt es keinen vernünftigen Grund mehr für das Klagen vor anderen, die nichts für Sie tun können. Falls Ihnen bei sich – und anderen – unliebsame Dinge auffallen, dann haben Sie es in der Hand, die nötigen Schritte zur Veränderung einzuleiten, anstatt sich zu beklagen.

Wenn Sie das nächste Mal an einem Zusammentreffen von vier oder mehr Paaren teilnehmen, dann probieren Sie doch einmal diese kleine Übung. Registrieren Sie still für sich, wie viele der Gespräche tatsächlich nur aus Ach und Weh bestehen. Angefangen bei sich selbst über die anderen bis hin zu Ereignissen, Preisen, Wetter und so weiter und so weiter … Fragen Sie sich nach der Party, wenn alle wieder ihrer Wege 57gegangen sind: «Hat das ganze Klagen heute abend irgend etwas geändert?», «Wer nimmt denn die Dinge, die wir heute abend bejammert haben, wirklich wichtig?» Behalten Sie dann die Nutzlosigkeit jenes Abends im Gedächtnis, wenn Sie das nächste Mal im Begriff stehen, den Mund zu einem tiefen Seufzer zu öffnen.

Selbstliebe kennt keinen Hochmut

Es könnte sein, daß all die vielen Worte über Selbstliebe bei Ihnen den Verdacht ausgelöst haben, es ginge dabei um ein widerwärtiges, an Selbstgefälligkeit grenzendes Gebaren. Nichts wäre falscher. Selbstliebe hat nichts mit jenem bekannten Benehmen gemein, allen vorzuführen, was für ein wunderbarer Mensch man selber ist. Der Versuch, sich aufzuplustern und damit die Aufmerksamkeit und den Beifall der anderen zu gewinnen, hat mit Selbstliebe nichts zu tun. Solches Verhalten ist nicht weniger neurotisch als das eines Menschen, der vor Selbstverachtung am liebsten in den Erdboden versinken möchte. Prahlerisches Benehmen entsteht, wenn man es darauf anlegt, die Zustimmung und Gunst anderer zu erringen. Der einzelne macht dabei seine Selbsteinschätzung von den Ansichten und Meinungen anderer abhängig. Wäre das nicht so, dann fehlte jeder Grund, die anderen überzeugen zu wollen. Selbstliebe heißt, sich selbst zu lieben; die Liebe anderer wird nicht verlangt. Es ist nicht notwendig, den anderen etwas zu beweisen. Die innere Bejahung genügt. Sie ist unabhängig von der Sichtweise der Menschen in Ihrer unmittelbaren Umgebung.

Selbsterniedrigung und was sie Ihnen antut

Aus welchen Gründen zieht ein Mensch es vor, sich nicht zu lieben? Was hat er dabei zu gewinnen? Mögen die Gewinne auch nachteilig sein, so sollten Sie sie doch einmal näher ins Auge fassen. Hier liegt der springende Punkt: um ein gesünderer Mensch zu werden, müssen Sie erst begreifen, warum Sie sich in selbstschädigender Weise verhalten. Es gibt kein Verhalten ohne Ursache. Der Weg zur Beseitigung der selbstzerstörerischen Verhaltensweisen ist aufgerissen durch die 58Schlaglöcher des Unverständnisses gegenüber Ihren eigenen Motiven. Erst wenn Ihnen klargeworden ist, warum Sie sich selbst übelwollen und auf welche Art das zur Fortführung dieses Verhaltens errichtete Stabilisierungssystem funktioniert, können Sie darangehen, die einzelnen Verhaltensweisen abzubauen oder zu verändern. Fehlt die Einsicht in Ihr eigenes Selbst, werden die alten Verhaltensmuster auch immer wieder die Oberhand gewinnen.

Was hat Sie dazu gebracht, sich auf selbsterniedrigende Verhaltensweisen einzulassen, gleichgültig, wie unbedeutend sie Ihnen erscheinen mögen? Natürlich ist es ganz einfach bequemer, erst einmal zu schlucken, wovon andere Sie überzeugen wollen, anstatt selbst nachzudenken. Aber Selbsterniedrigung bringt noch andere Vorteile mit sich. Wenn Sie sich dafür entscheiden, sich nicht zu lieben und nicht wichtig zu nehmen, dafür jedoch zu anderen aufzusehen, dann …

Dies also sind die einzelnen Elemente Ihrer Selbstverachtung unddie Mechanismen, die sie aufrechterhalten. Dies sind die Gründe, aus denen Sie sich weiter an das alte Denken und Verhalten klammern. Es ist eben soviel einfacher, das heißt weniger riskant, sich selbst herabzusetzen, als zu versuchen, wieder hochzukommen! Aber vergessen Sie nicht: der einzige Beweis für Leben ist Wachstum, und die Entscheidung, sich nicht zu einem sich selbst liebenden Menschen entfalten zu wollen, ist lebensfeindlich. Ausgerüstet mit diesen Einsichten in Ihr Verhalten, können Sie nun mit einigen geistigen und körperlichen Übungen anfangen, die das Wachstum Ihrer Selbstliebe fördern.

Selbstliebe ist erlernbar

Das Training der Selbstliebe beginnt in Ihrem Kopf. Sie müssen lernen, Ihre Gedanken zu kontrollieren. Das erfordert immer dann, wenn Sie sich in irgendeiner Weise selbst herabsetzen oder verurteilen und sich entsprechend zu benehmen beginnen, einen hohen Grad an Aufmerksamkeit für den gegebenen Augenblick. Gelingt es Ihnen, sich selbst im «Augenblick der Tat» zu ertappen, dann können Sie sofort den Gedanken, 60der hinter Ihrem Verhalten steht, in Frage stellen.

Sie merken, daß Sie soeben etwas Ähnliches gesagt haben wie: «So klug bin ich ja gar nicht, ich muß wohl einfach Glück gehabt haben, um für diese Arbeit eine Eins zu kriegen!» Jetzt sollte es in Ihrem Kopf klingeln. «Da! Jetzt gerade hab ich's getan! Mein Verhalten war voller Selbsthaß. Aber ich bin mir dessen jetzt bewußt, und das nächste Mal werde ich das nicht wieder sagen, wenn ich es auch mein ganzes Leben lang getan habe.» Ihre Strategie besteht darin, sich sofort laut zu korrigieren, indem Sie etwa erklären: «Eben habe ich gesagt, ich hätte wohl nur Glück gehabt, aber in Wirklichkeit hat das gar nichts damit zu tun. Ich habe die Note bekommen, weil ich sie verdient habe.» Dieses Erkennen Ihrer aktuellen Herabsetzung und der Entschluß, in Zukunft anders zu handeln, sind ein kleiner Schritt vorwärts in Richtung Selbstliebe. An die Stelle der alten Gewohnheit tritt jetzt das Bewußtsein, sich ändern zu wollen und erste Schritte, um diesen Entschluß in die Tat umzusetzen. Es ist genau wie beim Erlernen des Autofahrens: am Ende verfügen Sie über eine neue Gewohnheit, die nicht mehr dauernde bewußte Aufmerksamkeit erfordert. Bald werden Ihnen die verschiedenen Verhaltensweisen aufrichtiger Selbstliebe in Fleisch und Blut übergegangen sein.

Da Ihr Verstand nun nicht mehr gegen, sondern für Sie arbeitet, winken aufregende neue Selbstliebe-Aktivitäten am Horizont. Die nachfolgende kurze Liste solcher Verhaltensweisen können Sie in dem Maße ergänzen, wie Ihr Selbstwertgefühl wächst:

So handeln also Menschen, die es gelernt haben, sich selbst zu lieben. Wahrscheinlich stehen sie im Widerspruch zu den Lektionen, die man Ihnen im Laufe der Zeit eingebleut hat. Früher einmal waren Sie der Inbegriff der Selbstliebe. Als Kind hatten Sie, man könnte fast sagen, ein instinktives Selbstwertgefühl.

Sehen Sie sich jetzt noch einmal die Fragen aus der Einleitung an:

Beginnen Sie an diesen Punkten zu arbeiten! Setzen Sie sich persönliche Ziele und schließen Sie den schönsten, interessantesten und wertvollsten Menschen in Ihr Herz, den es je gegeben hat – Sie selbst.

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III.
Ob die anderen Sie gut finden,
ist nicht entscheidend

Wer von äußerer Bestätigung abhängt, könnte genausogut sagen:
«Eure Ansichten über mich sind wichtiger als das,
was ich selbst von mir halte.»

Es ist gut möglich, daß Sie viel zu viele Ihrer gegenwärtigen Augenblicke auf das Bemühen verwenden, die Zustimmung anderer zu erringen oder sich über etwa erlittene Mißbilligung Sorgen zu machen. Ist die Zustimmung der anderen für Sie zu einer Lebensnotwendigkeit geworden, werden Sie intensiv an sich arbeiten müssen, um hier einiges zu ändern. Fangen Sie damit an, sich klarzumachen, daß Bestätigungssuche kein wirkliches Bedürfnis, sondern nur ein starker Wunsch ist. Wir alle freuen uns über Beifall, Komplimente und Lob. Es tut so wohl, seelisch gestreichelt zu werden! Wer würde schon gern darauf verzichten? Nun, das ist auch gar nicht nötig. An sich ist Bestätigung nicht ungesund und Schmeicheleien wirken in der Tat höchst angenehm. Bestätigungssuche wird erst dann zur psychischen Problemzone, wenn sich der Wunsch zum Bedürfnis verfestigt.

Wenn Sie sich gern der Zustimmung anderer versichern, dann genießen Sie es einfach, sich den Rücken stärken zu lassen. Sind Sie jedoch darauf angewiesen, dann führt ihr Ausbleiben zum Zusammenbruch. An dieser Stelle kommen die selbstzerstörerischen Kräfte ins Spiel. Wenn entsprechend Bestätigungssuche zum Bedürfnis wird, dann treten Sie einen Teil Ihrer Person an den Menschen «da draußen» ab, dessen Unterstützung Sie unbedingt haben müssen. Stimmen die anderen Ihnen nicht zu, dann fühlen Sie sich, wenn auch vielleicht nur geringfügig, gelähmt. In diesem Fall lassen Sie sich willig von anderen am Gängelband führen. Sie fühlen sich nur dann innerlich wohl, wenn es den anderen einfällt, Ihnen ein Quentchen Lob zuzuteilen.

Das Bedürfnis nach Bestätigung durch einen anderen Menschen ist 65schon schlimm genug; zum Verhängnis wird es, wenn Sie für jede einzelne Ihrer Handlungen die Zustimmung aller Menschen brauchen. Wenn Sie ein solches Bedürfnis mit sich herumtragen, ist Ihnen ein Leben voller Not und Enttäuschung gewiß. Sie werden überdies noch das Selbstbild eines farblosen Niemand verinnerlichen, woraus sich schließlich – wie im vorangegangenen Kapitel erörtert – Selbstablehnung entwickeln muß.

Das Bedürfnis nach Zustimmung muß verschwinden! Daran gibt es nichts zu rütteln. Es muß radikal aus Ihrem Leben entfernt werden, wenn Sie je persönliche Erfüllung erlangen wollen. So ein Bedürfnis, das Ihnen in keiner Weise nutzen kann, wird zur seelischen Sackgasse.

Niemand kann durchs Leben gehen, ohne immer wieder Mißbilligung auf sich zu ziehen. Das ist der Lauf der Welt, der Tribut, den Sie für Ihr «Lebendigsein» bezahlen – eine unumgängliche Tatsache. Einmal arbeitete ich mit einem Mann in mittleren Jahren, der als klassisches Beispiel für die Mentalität des Bestätigungssuchers gelten kann. Otto verfügte über eine feste Meinung zu allen strittigen Fragen einschließlich Abtreibung, Geburtenkontrolle, dem Krieg im Nahen Osten, Watergate und so fort. Immer wenn er mit einer seiner Meinungen auf Ablehnung stieß, ging er aus allen Fugen. Einen Großteil seiner Energie setzte er dafür ein, jedermann dazu zu bringen, alles was er sagte und tat, gutzuheißen. Er berichtete über einen Vorfall mit seinem Schwiegervater: Er hatte entschieden erklärt, er glaube an Töten aus Barmherzigkeit, worauf der Schwiegervater mißbilligend die Stirn runzelte. Sofort, fast reflexhaft, änderte Otto seine Position … «Ich hab gemeint, daß Töten auf Verlangen dann in Ordnung ist, wenn jemand bei Bewußtsein ist und ausdrücklich darum bittet, getötet zu werden.» Er bemerkte, daß sein Zuhörer der gleichen Meinung war und konnte wieder aufatmen. Als er auch seinem Chef gegenüber für Tötung auf Verlangen eintrat, traf er auf heftigen Widerstand … «So etwas darf man nicht einmal aussprechen! Wissen Sie nicht, daß Sie sich damit als Gott aufspielen?» Eine solche Zurückweisung vermochte Otto nicht zu ertragen, ohne seinen Standpunkt ein wenig zu verändern … «Ich hab gemeint, nur in Extremfällen, wenn der Patient schon für tot erklärt ist, dann darf man den Stecker rausziehen.» Schließlich gab sich sein Chef zufrieden, und Otto fiel ein Stein vom Herzen. Er erläuterte auch seinem Bruder seine Ansicht über das Töten auf Verlangen 66und erhielt sofortige Zustimmung … «Na so was!» Das war ja leicht. Otto brauchte überhaupt nichts zu tun, um seinen Bruder zur Zustimmung zu bewegen. Alle diese Beispiele lieferte Otto selbst, als er über seinen normalen Umgang mit anderen sprach. Mit seinen Freunden und Bekannten verkehrt Otto ohne eine eigene Meinung. Sein Bedürfnis nach Lob ist so stark, daß er in einem fort seinen Standort verändert, damit die anderen ihn nur ja mögen. Es gibt gar keinen Otto, nur seine von Fall zu Fall wechselnden Reaktionen auf die anderen, von denen nicht nur abhängt, was Otto fühlt, sondern auch, was er denkt und sagt. Otto ist immer so, wie andere ihn haben wollen.

Wo die Bestätigungssuche zum Bedürfnis geworden ist, gibt es auch keine Wahrhaftigkeit mehr. Wenn Sie auf Lobpreisungen angewiesen sind und die entsprechenden Signale aussenden, kann niemand mehr geradeheraus mit Ihnen umgehen. Genausowenig können Sie je mit Bestimmtheit darüber sprechen, was Sie in einem gegebenen Augenblick Ihres Lebens denken und fühlen. Ihr Selbst ist den Ansichten und Vorlieben anderer zum Opfer gefallen.

Das Verhalten der Politiker wird häufig mit Mißtrauen betrachtet. Ihr Bedürfnis nach beifälliger Zustimmung grenzt ans Wunderbare. Fehlt es, so werden sie arbeitslos. Nicht selten scheinen sie deshalb mit gespaltener Zunge zu reden – sie sagen etwas Bestimmtes der Gruppe A zu Gefallen und um auch die Billigung von Gruppe B zu erhalten dann das genaue Gegenteil. Die Wahrheit bleibt auf der Strecke, wenn der Sprecher wetterwendisch ist und geschickt um den heißen Brei herummanövriert, um es mit niemandem zu verderben. Bei Politikern erkennen wir solches Verhalten auf den ersten Blick, nur bei uns selbst gelingt es uns nicht so ohne weiteres. Vielleicht haben Sie «fünf grade sein lassen», um jemanden zu beschwichtigen, oder mit jemandem, dessen Abneigung Sie fürchten, befanden Sie sich auf einmal in voller Übereinstimmung. Da Sie wußten, daß Sie Kritik nur schwer ertragen könnten, haben Sie sich einfach von vornherein anders verhalten, um ihr zuvorzukommen.

Es ist einfacher, sich so zu benehmen, daß Sie Zustimmung finden, als mit Kritik fertigzuwerden. Aber mit diesem bequemen Ausweg messen Sie den Ansichten der anderen größere Bedeutung zu als Ihrer eigenen Selbsteinschätzung. Eine heimtückische Falle, der man in unserer Gesellschaft nur schwer entgehen kann!

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Um nicht in die Bärenfalle der Bestätigungssuche zu gehen, die den Ansichten der anderen Macht über Sie verleiht, ist es erforderlich, zunächst die das Bedürfnis nach Anerkennung bestärkenden Faktoren zu untersuchen. Folgen Sie mir also bei dem Versuch, die zahlreich vorhandenen Bestätigung suchenden Verhaltensweisen aufzudecken.

Wie das Bedürfnis nach Bestätigung entsteht

Das Bedürfnis nach Bestätigung beruht auf einer einzigen Voraussetzung: «Trau nicht dir selbst, frag immer erst jemand anderen!» In unserer Kultur wird Bestätigungssuche zur Lebensnorm erhoben und fortwährend verstärkt. Unabhängiges Denken widerspricht nicht nur der Konvention, sondern wirkt gerade auf die Institutionen bedrohlich, die die wesentlichen Stützpfeiler unserer Gesellschaft bilden. Jeder, der in dieser Gesellschaft aufgewachsen ist, ist auch durch diesen Grundzug geprägt worden. «Habe kein Vertrauen in dich selbst!» Das ist die Quintessenz des Bedürfnisses nach Anerkennung und einer der Grundsteine unserer Kultur. Nehmen Sie die Meinungen anderer wichtiger als Ihre eigene! Sollten Sie bei den anderen keine Bestätigung finden, dann haben Sie allen Grund, sich deprimiert, wertlos oder schuldbewußt zu fühlen, weil die anderen ja viel bedeutender sind als Sie selbst.

Anerkennung läßt sich großartig zu Manipulationszwecken benützen. Über Ihren Wert bestimmen andere; finden sie sich nicht bereit, Ihnen gnädig etwas Anerkennung zuzuteilen, dann stehen Sie mit leeren Händen da. Dann sind Sie wertlos. Und immer weiter so: je mehr Anerkennung Sie brauchen, desto leichter sind Sie manipulierbar. Umgekehrt entfernen Sie sich mit jedem noch so kleinen Schritt in Richtung auf Selbstbestätigung und Unabhängigkeit von der guten Meinung der anderen immer weiter aus ihrem Einflußbereich. Dementsprechend werden solche gesunden Versuche als selbstsüchtig, lieblos, rücksichtslos und ähnliches hingestellt, um Sie weiter in Abhängigkeit zu halten. Denken Sie an die vielfältigen Anreize zur Bestätigungssuche, denen Sie schon als Kind ausgesetzt waren und mit denen Sie bis heute unablässig konfrontiert sind, wenn Sie versuchen, diesen Teufelskreis der Manipulation zu verstehen.

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Ein Erziehungsprodukt: der Drang nach Bestätigung

An dieser Stelle ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß kleine Kinder für ihre Entwicklung in hohem Maße auf Bejahung durch Bezugspersonen – meistens die Eltern – angewiesen sind. Aber die Bejahung sollte weder an die Sauberkeitserziehung geknüpft sein, noch sollte das Kind für alles, was es sagt, fühlt oder tut, die Genehmigung der Eltern einholen müssen. Selbstvertrauen kann schon in der Wiege gelehrt werden. Verwechseln Sie beim Lesen dieses Abschnitts das Bestätigungsbedürfnis nicht mit dem Liebesbedürfnis! Damit der einzelne als Erwachsener weitgehend unabhänig von der Bestätigung durch andere ist, ist es von Nutzen, ihm als Kind von Anfang an ein hohes Maß an Bestätigung zu geben. Wird ein Kind jedoch dazu erzogen, bei allem, was es denkt oder tut, erst Vater oder Mutter um Erlaubnis zu fragen, dann wird die Saat neurotischen Selbstzweifels schon früh gelegt. Hier ist von Bestätigungssuche als einem selbstschädigenden Bedürfnis die Rede, etwa wenn ein Kind darauf gedrillt wird, immer bei den Eltern nachzufragen. Es geht nicht um den gesunden Wunsch, von fürsorglichen Eltern Liebe und Bestätigung zu empfangen.

Unsere Kultur lehrt das Kind, sich in den meisten Fällen lieber auf andere zu verlassen, als seinem eigenen Urteil zu vertrauen. Geh mit allem erst einmal zu Mami oder Papi! «Was soll ich essen? … Wann? … Wo? …» – «Es ist dein Zimmer, aber aufräumen mußt du es folgendermaßen: die Kleider an den Haken, das Bett schön ordentlich gemacht, Spielzeug in die Kiste und so weiter …»

Hier sind noch zwei kleine Dialoge, die zeigen, wie Abhängigkeit und Bestätigungsstreben verstärkt werden:

«Du darfst anziehen, was du willst.»

«Wie gefällt dir das, Mami?»

«Aber Liebling! Nein, Streifen und Polkatupfen passen doch nicht zusammen! Geh und zieh entweder eine andere Bluse oder eine andere Hose an, so daß alles wieder schön zusammenpaßt!»

Eine Woche darauf …

«Was soll ich anziehen, Mami?»

«Aber ich hab dir doch gesagt, zieh an, was du willst. Warum fragst du mich denn jedesmal?»

Ja, warum wohl …

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Die Frau an der Kasse im Lebensmittelgeschäft fragt das kleine Mädchen: «Möchtest du gerne ein Bonbon?» Die Kleine schaut zu ihrer Mutter: «Möchte ich gerne ein Bonbon?» wiederholt sie. Sie hat gelernt, sich immer erst bei ihren Eltern zu vergewissern, auch darüber, ob sie etwas möchte oder nicht. Ob beim Spielen, Essen und Schlafen, bei ihren Freundschaften und sogar bei ihrem eigenen Denken – in der Familie erhalten Kinder nur ganz wenige Anstöße dazu, auf sich selbst zu vertrauen. Schuld daran trägt die Grundüberzeugung der Papis und Mamis, ihre Kinder gehörten ihnen. Anstatt die Kinder anzuleiten, selbst zu entscheiden, ihre Probleme allein zu lösen und Selbstvertrauen zu entwickeln, neigen Eltern eher dazu, ihre Kinder als ihren Besitz zu betrachten.

Khalil Gibran spricht in «Der Prophet» eindrücklich von Kindern, die als Besitztümer behandelt werden.

«Deine Kinder sind nicht deine Kinder.
Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.
Sie kommen durch dich, aber nicht von dir,
und obwohl sie bei dir sind, gehören sie dir nicht.»

Die Folgen dieses Vorgehens zeigen sich bei jedem «abhängigen» Kind. Mutti wird zum Schiedsrichter, zur ständigen Schlichterin von Kämpfen, zu der Instanz, bei der man den unartigen Bruder verpetzt und die dem Kind im wahrsten Sinne des Wortes alles Denken, Fühlen und Verhalten abnimmt. Verlaß dich nicht auf dich, um mit deinen Schwierigkeiten zurechtzukommen, Mami und Papi erledigen das schon für dich! Bau auch bei Entscheidungen, die du alleine fällen könntest, nicht auf dich, frag erst mal jemand anderen!

Kinder lassen nicht widerstandslos Bestätigungssucher aus sich machen. Jeder, der in seinem Leben mit Kindern und jungen Leuten in Berührung gekommen ist, weiß ausgiebig davon zu berichten. Zahllose Eltern haben mir ihre Erfahrungen mit der Sauberkeitserziehung ihrer Kinder erzählt. Sie behaupten, daß das Kind offenbar genau wisse, was von ihm verlangt wird. Sie selber wissen, daß das Kind die Fähigkeit zur Beherrschung seiner Schließmuskeln schon besitzt. Dennoch weigert es sich beharrlich und mit aller Entschiedenheit, mitzuspielen. 70Hier kommt es zum ersten wirklichen Protest gegen die Abhängigkeit von der Zustimmung der Eltern. Das Kind gibt damit zu verstehen: «Alles könnt ihr mir vorschreiben, was ich esse, was ich anziehe, mit wem ich spiele, wann ich schlafen gehe, wann ich hereinkomme, wo ich meine Spielsachen aufbewahre und sogar, was ich denke – aber das hier tue ich, wenn es mir paßt!» Der erste erfolgreiche Protest gegen den Zwang, in allen Dingen Muttis und Vatis Zustimmung einholen zu müssen!

Als Kind wollten Sie für sich selbst denken und für sich verantwortlich sein. Wenn Ihr Vater Ihnen beim Anziehen des Mantels helfen wollte, als Sie noch klein waren, sagten Sie: «Das kann ich allein.» Aber nur zu oft bekamen Sie dann zur Antwort: «Ich mach das schnell für dich, wir haben nicht so viel Zeit.» Oder: «Du bist noch zu klein.» Jener Funken Unabhängigkeit, jener Wunsch, Ihr eigener Mensch zu sein, der damals so lebendig in Ihnen war, wurde wieder und wieder durch das Dazwischentreten von Mutter und Vater gedämpft. Wenn du das nicht tust, erregst du unser Mißfallen, und wenn du uns mißfällst, mußt du dir selbst auch mißfallen! Aller guten Absicht zum Trotz erzeugt die Familiengruppe Abhängigkeit und das Bedürfnis nach Bestätigung. Um ihre Kinder vor Schaden zu bewahren, versuchen die Eltern, alle Gefahren von ihnen fernzuhalten. Das Ergebnis verkehrt sich jedoch ins Gegenteil dessen, was beabsichtigt war, denn ohne die Munition der Erfahrungen, wie man sich in schwierigen Lagen selbst hilft (Streit selbst durchfechten, mit Beleidigungen fertig werden, um die Ehre kämpfen, seinen Willen durchsetzen), gelingt es nicht, ein Arsenal unabhängiger Verhaltensweisen für ein ganzes Leben aufzubauen.

Viele der Aufforderungen nach Bestätigung zu suchen, die Ihnen als Kind übermittelt worden sind und an die Sie sich großenteils gar nicht mehr erinnern, erreichten Sie schon im frühen Alter. Und während viele dieser Aufforderungen «Frag erst mal Mutti oder Vati» für Ihre Sicherheit und Gesundheit durchaus am Platze waren, ergingen andere, um Sie ein fragwürdiges Konzept zu lehren, nämlich gutes Benehmen, Benehmen, das Zustimmung findet. Die Zustimmung, die an sich eine selbstverständliche Gegebenheit hätte sein sollen, war also davon abhängig, wie gut Sie anderen gefielen. Es geht hier nicht darum, daß Bestätigung ganz unwichtig sei, sondern daß sie einem Kind freimütig 71gewährt werden sollte und nicht nur als Belohnung für gutes Betragen. Ein Kind sollte niemals dazu ermuntert werden, seine Selbstachtung mit der Zustimmung anderer gleichzusetzen.

Bestätigungssignale im Bereich der Schule

Als Sie alt genug waren, um in die Schule zu gehen, traten Sie in eine Institution ein, die eigens dazu bestimmt ist, zu bestätigungsheischendem Denken und Verhalten zu erziehen. Baue nie auf dein eigenes Urteil! Frag bei allem, was du tust, um Erlaubnis. Frag den Lehrer, ob du zur Toilette gehen darfst. Da ist dein Platz, verlaß ihn nicht, sonst setzt es einen Verweis! Alles war auf Fremdsteuerung angelegt. Anstatt Sie denken zu lehren, brachte man Ihnen bei, sich nur ja keinen selbständigen Gedanken zu erlauben. Falte deinen Bogen in sechzehn Quadrate und schreib nicht auf die Kanten. Lies zu Hause Kapitel eins und zwei. Übe diese Wörter. Zeichne dies! Lies das! Sie wurden zum Gehorsam erzogen. Erregten Sie den Zorn der Lehrerin oder, noch schlimmer, den des Rektors, dann erwartete einen monatewährende Zerknirschung. Das Zeugnis war eine Mitteilung an Ihre Eltern, wieviel Anerkennung Sie sich erworben hatten.

Wenn Sie sich die Zielsetzung Ihrer Schule ansehen, so wie sie anläßlich der Abschlußfeier oder bei ähnlichen Gelegenheiten verkündet zu werden pflegt, stoßen Sie höchstwahrscheinlich auf eine Erklärung etwa folgenden Inhalts:

«Wir an der Emerentius-Gnadenreich-Schule in ABC-Stadt glauben an die großen Entwicklungsmöglichkeiten unserer Schüler im pädagogischen Sinne. Wir sind bemüht, unseren Spielraum innerhalb des Lehrplans im Sinne der individuellen Bedürfnisse jedes Schülers zu nutzen. Selbstverwirklichung und individuelle Entwicklung sind das Ziel, das wir anstreben und fördern … und so weiter.»

Wie viele Schulen oder Lehrer wagen es schon, diese Worte in die Tat umzusetzen. Fängt ein Schüler an, Spuren von Selbstverwirklichung und Autonomie zu zeigen, wird er sofort in die Schranken gewiesen. Unabhängige, von Selbstliebe erfüllte Schüler, die gegen Schuld- und Angstgefühle unempfindlich sind, werden systematisch als Störenfriede verschrieen.

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Die Schule versteht sich nicht gut auf den Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die Anzeichen von unabhängigem Denken erkennen lassen. Allzuoft führt der Weg zum Erfolg über das Streben nach Bestätigung. Die alten Klischees vom Lehrerliebling und Einschmeichler sind nicht ohne Grund entstanden. Sie existieren – und funktionieren – auch heute noch. Wenn ihr euch das Wohlwollen der Lehrer sichert, euch ihren Anordnungen gemäß verhaltet, brav lernt, was euch vorgesetzt wird, dann werdet ihr auch die Schule erfolgreich abschließen! Allerdings auch mit einem ausgewachsenen Bedürfnis nach Bestätigung, da so gut wie jede Regung von Selbstvertrauen unterdrückt worden ist.

Nach fünf, sechs Jahren Schulbesuch hat der Schüler seine Lektion in Sachen Bestätigung in der Regel gelernt. Kommen Entscheidungen hinsichtlich Fächerwahl und ähnliches auf ihn zu, dann antwortet er dem beratenden Lehrer: «Ich weiß nicht recht, sagen Sie mir doch, was ich machen soll!» Später fällt es ihm schwer, mit seinen Wahlmöglichkeiten zurechtzukommen, denn im Grunde ist es ihm viel lieber, wenn über seinen Kopf hinweg entschieden wird. Im Klassenzimmer lernt er, nicht anzuzweifeln, was ihm gesagt wird. Er lernt, Aufsätze so zu schreiben, wie es sich gehört, den «Faust» korrekt zu interpretieren und Referate abzufassen, die sein Urteil und seine Sicht zwar aussparen, aber dafür alles Gesagte mit Zitaten und Belegen untermauern. Lernt er das alles jedoch nicht, dann wird er bestraft mit schlechten Zensuren – und der Mißbilligung der Lehrer obendrein. Wenn der Schüler dann vor dem Abschluß steht, hat er Mühe, eine Entscheidung allein zu treffen, denn häufig nicht weniger als dreizehn Jahre lang ist ihm immer wieder gesagt worden, wie und was er denken soll. «Frag doch den Lehrer!» Das war so lange sein täglich Brot, daß er jetzt, da er das Abitur erreicht hat, nicht mehr selbständig denken kann. Statt dessen hungert er nach Bestätigung, hat er doch erfahren, daß die Billigung durch andere gleichbedeutend ist mit Erfolg und Glück.

Die Indoktrination setzt sich an der Universität im gleichen Stile fort. Sie müssen drei Klausuren in jedem Semester schreiben, benutzen Sie bitte für Ihre Arbeiten das richtige Format, geben Sie nur Maschinengeschriebenes ab, gliedern Sie Ihren Text in Einleitung – Hauptteil – Schluß, lesen Sie die Kapitel …! Ein einziges großes Fließband. Passen Sie sich an, verderben Sie es sich nicht mit Ihren Professoren und Sie 73schaffen es! Gerät der Student doch einmal in ein Seminar, in dem der Professor erklärt: «In diesem Semester können Sie sich mit einem Thema Ihrer Wahl aus Ihrem Interessengebiet beschäftigen. Ich werde Ihnen bei der Auswahl wie bei der Arbeit behilflich sein, aber letzten Endes geht es ja um Ihre Ausbildung, also handeln Sie nach eigenem Gutdünken! Ich werde Ihnen dabei, soweit es in meinen Kräften steht, zur Seite stehen!», dann gerät er in Panik. «Aber wie umfangreich muß die Arbeit denn sein?», «Wann müssen wir sie abgeben?», «Muß sie mit der Maschine geschrieben sein?», «Welche Bücher sollen wir lesen?», «Wie viele Klausuren?», «Was für Fragen?», «Welches Format sollen wir benutzen?», «Wieviel Rand sollen wir lassen?», «Muß ich jedesmal anwesend sein?»

Das sind die Fragen eines Bestätigungssuchers. Eingedenk der vorher erwähnten Erziehungsmethoden kommen sie keineswegs überraschend. Der Student ist noch darauf trainiert worden, nicht für sich selbst zu arbeiten, sich mit dem Professor gut zu stellen und fremden Maßstäben zu genügen. Seine Fragen ergeben sich als letzte Konsequenz eines Systems, das das Bestätigungsstreben als Lebensnotwendigkeit betrachtet. Selbst denken zu müssen, flößt unserem Studenten großen Schrecken ein. Es ist doch einfach bequemer und sicherer, immer das zu tun, was andere von einem erwarten.

Bestätigungssignale aus anderern Institutionen

Unsere Bestätigungssymptome stammen aber auch noch aus anderen Quellen. Die Kirche hat sicherlich auf diesem Gebiet großen Einfluß gehabt: Sie müssen Jehovah oder Jesus oder sonst einer Instanz außerhalb Ihrer selbst gefallen! Die Lehren der großen religiösen Führer sind durch die Kirchenfürsten verfälscht worden in dem Bemühen, Angst vor Vergeltung als Druckmittel zu benützen, um Anpassung durchzusetzen. Ein Mensch gehorcht demnach nicht deswegen den Moralgesetzen, weil er sie bejaht, sondern weil Gott es von ihm verlangt. Halten Sie sich im Zweifelsfalle lieber an die Gebote als an sich selbst und Ihre Überzeugungen. Seien Sie brav – nicht weil Sie das als richtiges Verhalten für sich erkannt hätten, sondern weil man es Ihnen so befohlen hat und weil Sie andernfalls bestraft werden. Die organisierte 74Religion appelliert an Ihr Bedürfnis nach Anerkennung und Bestätigung. Zwar mag das am Ende zu dem gleichen Verhalten führen, das Sie von sich aus gewählt hätten – nur daß Sie eben nicht frei wählen konnten.

Sich ganz nach sich selbst zu richten, ohne das Bedürfnis nach Bestätigung durch eine äußere Macht, führt zur tiefsten religiösen Erfahrung, die es gibt. Es ist wahrhaftig eine Religion des Selbst, in der der einzelne sich in seinem Verhalten mehr durch sein Gewissen und die für ihn gültigen Gesetze seiner Kultur leiten läßt, als durch irgendwelche fremden Vorschriften, wie er sich verhalten sollte. Bei näherer Beschäftigung mit Jesus Christus finden wir einen im höchsten Grade selbstverwirklichten Menschen, einen Menschen, der Selbstvertrauen predigte und sich nicht scheute, Anstoß zu erregen. Nicht wenige seiner Anhänger haben seine Lehre allerdings zu einem Katechismus der Angst und des Selbsthasses verzerrt. (Siehe die vollständige Beschreibung eines selbstaktualisierten Menschen im zwölften Kapitel.)

Die meisten Regierungsformen sind weitere Beispiele für Institutionen, die das Streben nach Bestätigung als Triebfeder der Anpassung benutzen. «Vertrauen Sie nicht auf sich selbst! Sie verfügen gar nicht über die nötigen Fähigkeiten und Mittel, um allein zurechtzukommen. Wir werden uns schon um Sie kümmern. Wir behalten Ihre Steuern für Sie ein, weil Sie sie sonst ausgeben würden, bevor Ihre Steuererklärung fällig wird. Wir zwingen Sie, Versicherungsbeiträge zu bezahlen, weil Sie gar nicht imstande wären, allein zu entscheiden oder selbst Vorsorge zu treffen. Sie brauchen nicht selbst nachzudenken, wir regeln Ihr Leben schon für Sie!» Und so kommt es zu den zahlreichen Fällen, in denen die Regierung weit über ihre Aufgabe, wesentliche Dienstleistungen zu erbringen und die Gesellschaft zu verwalten, hinausgeht.

In den Gesetzbüchern wuchern mehr Paragraphen, als es Leute gibt, um sich dagegen aufzulehnen. Wenn auf einmal beschlossen würde, auf die strikte Einhaltung sämtlicher Gesetze zu dringen, dann fänden Sie sich jeden Tag Hunderte von Malen der Gesetzesübertretung schuldig. Jemand hat festgelegt, zu welcher Zeit Sie einkaufen können und wann Ihr Stammlokal jede Nacht schließen muß. Über alles gibt es Vorschriften, sogar darüber, was zu bestimmter Zeit und an bestimmtem Ort zu tragen und wie Sex zu genießen ist, was Sie sagen und wo Sie gehen dürfen. Glücklicherweise werden die meisten dieser Vorschriften 75nicht durchgesetzt. Nichtsdestoweniger sind die Regelerlasser oftmals anmaßende Burschen, die von sich behaupten, sie wüßten, was gut für Sie sei, ja, sie wüßten es sogar besser als Sie selbst.

Tagtäglich werden wir mit einer Menge kultureller Signale bombardiert, die uns dazu ermuntern, Bestätigung zu suchen. Die Musik, die wir jeden Tag hören, namentlich die Schlager aus der Unterhaltungsmusik der letzten drei Jahrzehnte, steckt voller gefühlvoller Aufforderungen zur Bestätigungssuche. Jene zuckersüßen, harmlosen Texte sind vielleicht schädlicher, als Sie denken. Die Titel der nachfolgenden kurzen Liste senden alle die Botschaft, daß jemand oder etwas anderes wichtiger sei als man selbst. Ohne die Gunst jenes besonderen anderen würde das «Ich» zusammenbrechen.

Vielleicht versuchen Sie das nächste Mal, wenn Sie gerade ein Stück hören, das mit Sirenenklängen zur Bestätigungssuche auffordert, eine kleine Übung. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf jene Textstellen, die die Art, wie man Sie zu fühlen gelehrt hat, widerspiegeln; also daß Sie es nicht aushielten, wenn ein anderer etwas an Ihnen mißbilligte oder Sie enttäuschte. Schreiben Sie die Texte so um, daß sie eher der Geisteshaltung persönlicher Unabhängigkeit entsprechen als dem Streben nach Bestätigung. Zum Beispiel:

Zugegeben, in die Hitparaden würden diese Lieder wohl alle nicht kommen, aber Sie selbst können damit beginnen, sich dem ständigen Einfluß dieser «kulturellen» Botschaften bewußt zu werden; und sich fragen, wieweit Sie in Ihren Verhaltensweisen solchen Klischees schon folgen. «Ohne dich bin ich nichts» muß zurückübersetzt werden in «Ohne mich bin ich nichts, aber mit dir zusammen zu sein macht diesen Augenblick jetzt sehr schön.»

Das Werbefernsehen richtet besonders eindringliche Appelle an Ihr bestätigungsheischendes Denken. Mit ihren leicht parodistischen Spots wollen die Hersteller Sie zum Kauf ihrer Waren animieren, indem sie die Vorstellung, die Ansichten der anderen seien viel, viel bedeutender als Ihre eigenen, weiter bekräftigen.

Denken Sie einmal über den folgenden Dialog nach, der sich entspinnt, als Ihre Freundinnen zum Bridgespielen zu Ihnen nach Hause kommen.

1. Freundin (hörbar schnüffelnd): «So, gestern abend Bratfisch gehabt, Liebes?» (in sehr mißbilligendem Ton).

2. Freundin: «Ach, und der Georg raucht ja auch noch seine Zigarre!» (im gleichen spitzen Tonfall).

Sie: Sehen verletzt aus und verstört, wie ein geprügelter Hund – weil andere an den Gerüchen in Ihrem Haus Anstoß nehmen.

Der psychologische Hintergrund: «Was andere von Ihnen denken, hat viel mehr zu bedeuten, als was Sie selbst denken; wenn Sie schon das Mißfallen Ihrer Freundinnen erregen, geschieht es Ihnen auch ganz recht, daß Sie sich elend fühlen.»

Bedenken Sie auch die folgende Szene und die Botschaft, die sie übermittelt:

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Eine Frau überlaufen angstvolle Schauder bei dem Gedanken, was ihre Freunde sagen würden, wenn sie sie mit einer faltigen Strumpfhose sähen. «Ich könnte es einfach nicht ertragen, daß sie etwas Schlechtes von mir denken. Ich brauche ihre Anerkennung unbedingt, deshalb kaufe ich diese Marke hier und nicht jene.»

In den Anzeigen für Mundwasser, Zahnpasta, Deodorantien und Spezialsprays wimmelt es von Verbalsuggestionen, wie sehr Sie Zustimmung brauchen und daß der Kauf dieser speziellen Waren das Mittel darstelle, sie zu bekommen. Warum läßt sich die Werbung zu solchen Taktiken herab? Weil sie erfolgreich sind. Weil sie den Verkauf fördern! Die Werbeleute gehen davon aus, daß wir alle an dem Bedürfnis nach Bestätigung kranken. Mit ihren kleinen erfundenen Szenen, die die richtigen Signale aussenden, beuten sie dieses Bedürfnis aus.

Da haben wir sie, unsere Umwelt, die das Bestätigungsstreben schätzt und ermutigt. Da ist es kaum verwunderlich, daß auch Sie sich für zu abhängig von den Ansichten der anderen befunden haben. Ihr ganzes Leben hindurch sind Sie in diesem Sinne konditioniert worden, und selbst wenn Ihre Familie sich der Notwendigkeit bewußt war, Ihnen beim Aufbau von Selbstvertrauen zu helfen, so wirkten bestimmte nebenherlaufende soziokulturelle Faktoren dem noch entgegen. Aber Sie sind nicht gezwungen, an Ihrem bestätigungssüchtigen Verhalten festzuhalten! Genauso wie Sie darauf hinarbeiten, die Gewohnheit der Selbstherabsetzung abzulegen, können Sie auch das zur Gewohnheit gewordene Bestätigungsstreben ganz hinter sich lassen. Mark Twain legt in «Puddinhead Wilson's Calendar» überzeugend dar, auf welche Weise man ein Verhaltensmuster wie das der Bestätigungssuche durchbricht: «Gewohnheit ist Gewohnheit; keiner kann sie einfach zum Fenster hinauswerfen, vielmehr muß man sie Schritt für Schritt die Treppe hinunterlocken.»

Das Bestätigungsstreben Schritt für Schritt die Treppe hinunterlocken

Besehen Sie sich einmal den Lauf der Dinge etwas genauer. Um es kurz zu sagen: Sie können es niemals allen Leuten recht machen. In der Tat leisten Sie schon Beachtliches, wenn fünfzig Prozent der Leute Ihnen 78beistimmen. Das ist kein Geheimnis. Oder sollten Sie nicht wissen, daß mindestens die Hälfte der Menschen in Ihrer Umgebung mindestens die Hälfte dessen, was Sie sagen, bestreitet? Wenn das zutrifft (und Sie brauchen nur an als «Erdrutsch» bezeichnete Wahlergebnisse zu denken, um zu sehen, daß immer noch vierundvierzig Prozent der Bevölkerung gegen den Sieger gestimmt haben), dann stehen Ihre Chancen, mit einer Meinungsäußerung auf Mißbilligung zu stoßen, stets etwa fünfzig zu fünfzig.

Ausgerüstet mit dieser Erkenntnis können Sie nun auch Mißbilligung in neuem Lichte sehen. Anstatt sich verletzt zu fühlen oder Ihre Meinung zwecks fremder Billigung flugs zu modifizieren, wenn jemand anderer Ansicht ist als Sie, sind Sie jetzt imstande, sich selbst leise daran zu erinnern: Sie haben es da mit einem Vertreter jener Fünfzig-Prozent-Gruppe zu tun, die Ihre Ansichten nicht teilt. Die Einsicht, daß alles, was Sie fühlen, denken, sagen oder tun, unweigerlich auch auf Ablehnung stoßen wird, weist den Weg aus dem Abgrund der Verzweiflung. Sobald Sie schon von vornherein darauf gefaßt sind, sind Sie nicht mehr so leicht verletzlich; parallel dazu wächst Ihre Fähigkeit, Ablehnung eines Gedankens oder eines Gefühls nicht mehr als Zurückweisung Ihrer ganzen Person zu empfinden.

Sie können fremden Mißfallensäußerungen niemals entkommen, gleichgültig, wie sehr Sie sich das wünschen. Zu jeder Ihrer Ansichten existiert irgendwo da draußen ein Gegenspieler mit genau der entgegengesetzten Ansicht. In einem von Francis B. Carpenter aufgezeichneten Gespräch im Weißen Haus sagte Abraham Lincoln dazu:

«... Sollte ich alle Angriffe auf mich lesen, vom Beantworten einmal ganz zu schweigen, dann könnte ich diesen Laden hier ebensogut für alle anderen Angelegenheiten schließen. Ich handle nach meinem allerbesten Wissen und Können, und ich habe vor, es auch weiterhin so zu halten. Gibt mir der Ausgang recht, dann zählt das alles nicht, was über mich gesagt worden ist. Bin ich aber am Ende im Unrecht, dann machten auch die Schwüre von zehn Engeln, ich hätte recht, keinen Unterschied.»[3]

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Verhaltensweisen, die Bestätigung förmlich heraufbeschwören

Wie Selbstablehnung umschließt auch die Bestätigungssuche eine Vielzahl gegen das eigene Selbst gerichteter Verhaltensweisen. Die unten aufgeschlüsselten Formen gehören zu den verbreitetsten bestätigungsheischenden Aktivitäten.

Die Liste könnte offensichtlich endlos so weitergehen. Bestätigungssuche ist ein kulturbedingtes Phänomen, das dem Betrachter in allen Winkeln des Erdballs in die Augen springt. Schädlich wird es erst, wenn es sich zu einem ständigen Bedürfnis entwickelt, was natürlich gleichbedeutend ist mit der Aufgabe des eigenen Selbst und der Verlagerung der Verantwortung für das persönliche Wohlbefinden in die Hände derer, deren Billigung man erwartet.

Was Ihnen die Jagd nach Bestätigung einbringt

Es ist nützlich, einen Blick auf das Warum dieser selbstschädigenden Verhaltensweise zu werfen, bevor wir uns mit den Strategien zur Beseitigung des Bestätigungsbedürfnisses beschäftigen. Weiter unten 81finden Sie einige der verbreiteteren Gründe – hauptsächlich neurotischer Natur – für das Festhalten an der Bestätigungssuche. Als Entschädigung für bestätigungsbedürftiges Verhalten schlägt folgendes zu Buche:

Diese neurotischen Entschädigungen ähneln den sogenannten Belohnungen für Selbsthaß aufs Haar. Das Motiv der Vermeidung von Verantwortung, Veränderungen und Risiken führt in der Tat zum Kern aller in diesem Buch behandelten selbstzerstörerischen Denk- und Verhaltensweisen. Sagen wirs ohne die ganze hochgestochene diagnostische Sprache: Es ist schlicht leichter, vertrauter und gefahrloser, sich an neurotischen Verhaltensmustern festzuklammern. Zum Bedürfnis gewordene Bestätigungssuche macht davon offensichtlich keine Ausnahme.

Was die ständige Suche nach Bestätigung so paradox macht

Folgen Sie für einen Augenblick einer kleinen Phantasmagorie. Nehmen Sie an, daß Sie wirklich auf die Bestätigung jedes einzelnen Menschen erpicht wären und daß es möglich wäre, sie auch zu bekommen. Nehmen Sie weiter an, das wäre ein erstrebenswertes Ziel. Was wäre nun, vor diesem Hintergrund, das beste, wirkungsvollste Mittel, Ihr Ziel zu erreichen? Bevor Sie antworten, denken Sie an denjenigen, der unter all den Menschen, denen Sie je begegnet sind, offensichtlich die meiste Bestätigung erhält. Was für ein Mensch ist das? Wie verhält er sich? Was hat er an sich, das jeden anzieht? Wahrscheinlich denken Sie an jemanden, der aufrichtig, direkt und offen ist, unabhängig von den Meinungen anderer Leute, und der ein erfülltes Leben führt. Für Bestätigungssuche bleibt ihm vermutlich kaum oder gar keine Zeit. Allem Anschein nach handelt es sich um einen Menschen, der kein Blatt vor den Mund nimmt, ungeachtet der Konsequenzen. Vielleicht sind ihm Takt und diplomatisches Vorgehen weniger wichtig als Ehrlichkeit. Er ist kein aggressiver Mensch, nur ist ihm die Zeit zu schade für das Schauspielern, das mit zartfühlender Redeweise und der Sorgfalt, die Dinge genau richtig zu sagen, um keine Gefühle zu verletzen, verbunden ist.

83

Wenn da keine Ironie drinsteckt! Die Personen, die in ihrem Leben offenbar die meiste Bestätigung bekommen, sind ausgerechnet die, die gar nicht danach suchen, die kein Verlangen danach haben und ihr nicht ständig nachjagen.

Hier ist eine kleine Fabel, die an diese Stelle paßt, wo das Glück im Fehlen von Bestätigungsbedürfnissen begründet liegt:

«Eine große Katze sah eine kleine Katze ihrem Schwanz nachjagen und fragte: ‹Warum jagst du deinem Schwanz so hinterher?› Das Kätzchen antwortete: ‹Ich habe gehört, daß das Glück das Beste für eine Katze ist und daß es in meinem Schwanz sitzt. Deshalb versuche ich, ihn zu erhaschen: wenn ich ihn erwische, werde ich das Glück gefunden haben.› Darauf sagte die alte Katze: ‹Mein Sohn, auch ich habe mich mit den Problemen des Universums beschäftigt. Auch ich habe befunden, daß das Glück in meinem Schwanz sitzt. Allein, ich habe bemerkt, daß er mir immer wegläuft, wenn ich ihn fangen will; gehe ich jedoch meiner Wege, scheint er mir von allein hinterherzukommen, wo ich auch hingehe.›»[4]

Wenn Sie auf Bestätigung versessen sind, ist der beste Weg, soviel wie möglich davon zu bekommen, also ironischerweise der, sie nicht zu wollen, es zu unterlassen, ihr nachzujagen und sie von niemandem zu verlangen. Sie werden dadurch, daß Sie mit sich selbst in Übereinstimmung leben und Ihr positives Selbstbild als Ratgeber benützen, viel mehr Anerkennung finden.

Natürlich können Sie niemals bei jedermann und für alles, was Sie tun, Anerkennung ernten, aber wenn Sie sich selbst für wertvoll ansehen, wird das Ausbleiben von Anerkennung Sie nicht mehr niederdrücken. Mißbilligung wird Ihnen als die natürliche Folge des Lebens auf diesem Planeten erscheinen, dessen Bewohner sich in ihren Wahrnehmungen voneinander unterscheiden.

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Verhaltensstrategien, um das Bestätigungsbedürfnis zu beseitigen

Um das Bestätigungsstreben bei sich abzubauen, müssen Sie erst mit Ihren neurotischen Belohnungen für das Weiterbestehen dieses Verhaltens vertraut werden. Sie können einfach mit neuen selbststärkenden Gedanken reagieren, sobald Sie auf Mißbilligung stoßen (worin die wirkungsvollste Strategie zu sehen ist, die Sie anwenden können); darüber hinaus folgen hier etliche spezielle Punkte, mit deren Veränderung Sie beginnen können, um sich aus der bestätigungsbedürftigen Gebundenheit zu lösen.

Das also waren die ersten Schritte zur Beseitigung des Bestätigungsbedürfnisses. Während Sie nun nicht danach streben, Bestätigung mit Stumpf und Stiel aus Ihrem Leben auszureißen, arbeiten Sie doch auf das Ziel hin, sich durch das Ausbleiben ersehnter Schmeicheleien innerlich auch nicht im mindesten lähmen zu lassen.

Beifall ist eine überaus erfreuliche Sache, und Bestätigung tut einem jeden von uns im Herzen wohl. Trotzdem müssen Sie lernen, den begehrten Applaus ohne Enttäuschung entbehren zu können. Wie ja auch ein Übergewichtiger seinen Durchhaltewillen beim Abnehmen nicht auf die Probe stellt, solange er mit vollem Magen dasitzt, oder jemand, der das Rauchen aufgeben will, die Festigkeit seines Entschlusses nicht prüft, wenn er die letzte Zigarette eben im Aschenbecher ausgedrückt hat, können auch Sie sich beim Fehlen fremder Mißbilligung nicht erfolgreich damit auseinandersetzen. Auch wenn Sie hoch und heilig schwören, Sie wüßten wohl mit Ablehnung umzugehen und am Beifall der übrigen Menschheit wäre Ihnen rein gar nichts gelegen, können Sie den Beweis, wie gut Sie wirklich vorankommen, erst angesichts echter Anfeindungen erbringen. Gelingt es Ihnen, diese schädliche Problemzone abzubauen, dann wird Ihnen alles Übrige sehr leicht vorkommen, denn nicht umsonst sind Sie seit Ihrem ersten Atemzug auf dieser Welt systematisch auf Abhängigkeit von Bestätigung gedrillt worden. Sehr viel geduldiges Üben wird erforderlich sein, um dieses Verhaltensmuster zu korrigieren. Für dieses Ziel ist jedoch keine Anstrengung zu schade. Mißbilligung ertragen zu können, ohne darunter zusammenzubrechen, ist der einzige Weg zu einem Leben voller gegenwärtiger Augenblicke köstlicher persönlicher Freiheit.

89

IV.
Vergangenes auf sich beruhen lassen

Nur ein Gespenst wühlt in seiner Vergangenheit herum
und erklärt sich mit Selbstdefinitionen
aus seinem früheren Leben.
Sie sind, was Sie heute sein wollen,
nicht das, wozu Sie sich früher entschieden haben.

Wer sind Sie, und wie beschreiben Sie sich selbst? Wahrscheinlich werden Sie auf Ihre Vergangenheit zurückgreifen, um diese Frage zu beantworten, auf Ihr vergangenes Leben, das Sie hinter sich gebracht haben, an das Sie aber zweifellos noch gebunden sind und von dem Sie sich nur unter Schwierigkeiten losmachen können. Was für Selbstdefinitionen haben Sie? Sind es fein säuberliche Etiketten, über die Jahre hinweg zusammengetragen? Haben Sie einen ganzen Kasten voller Selbstbeschreibungen, von denen Sie regelmäßig Gebrauch machen? Vielleicht finden sich Redewendungen darunter, wie: Ich bin schüchtern – Ich bin faul – Ich bin unmusikalisch – Ich bin ungeschickt – Ich bin vergeßlich, und dazu noch ein ganzer Katalog weiterer «Ich bin»-Sätze, mit denen Sie operieren. Andererseits verfügen Sie wahrscheinlich auch über viele positive «Ich bin»-Kennzeichnungen, wie: Ich bin liebevoll – Ich spiele gut Bridge – Ich bin liebenswürdig. Davon soll hier nicht die Rede sein, denn die Absicht dieses Kapitels ist nicht, Sie zu loben, weil Sie in manchen Bereichen Ihres Lebens so reibungslos zurechtkommen, sondern Ihnen bei weiterer Entfaltung zu helfen.

Selbstbeschreibungen sind nicht an sich schon nachteilig; sie können aber auf schädliche Weise angewendet werden. Allein die Tatsache, daß Sie sich überhaupt Schilder umhängen, kann sich für Ihr weiteres inneres Wachstum überaus hemmend auswirken. Nur zu leicht werden die Etiketten als Vorwand benützt, sich immer gleich zu bleiben. Sören Kierkegaard hat gesagt: «Sobald du mich festlegst, verneinst du mich.» Wenn das Individuum seiner Kennzeichnung gerecht werden muß, 90geht das Selbst zugrunde. Das gleiche gilt für die Selbstbeschreibung. Es ist möglich, daß Sie sich selbst verneinen, indem Sie sich anstatt mit Ihrem Wachstumspotential mit Ihrem Markenzeichen identifizieren.

Alle Selbstbeschreibungen entstammen der persönlichen Vorgeschichte eines Menschen. Die Vergangenheit aber, so sagt Carl Sandburg in «Prairie», ist «ein Eimer Asche».

Untersuchen Sie, wie stark Sie an Ihre Vergangenheit gekettet sind. Die selbstschädigenden «Ich bin»-Erklärungen gehen allesamt auf den Gebrauch der folgenden vier neurotischen Sätze zurück:

  1. «So bin ich nun mal.»
  2. «Ich war eben schon immer so.»
  3. «Ich kann nichts dafür.»
  4. «Das ist halt meine Art.»

Da haben wir sie alle auf einem Haufen beieinander: die Klammern, die Sie davor zurückhalten zu wachsen, sich zu verändern und Ihr Leben (von diesem Moment an – mehr bleibt Ihnen nicht!) neu, aufregend und randvoll mit gegenwärtiger Erfüllung zu gestalten.

Ich weiß von einer Großmutter, die jeden Sonntag, wenn die Familie zum Essen zu ihr kommt, genau bestimmt, wieviel ein jeder essen wird, indem sie nämlich die Portionen ganz nach eigenem Gutdünken auf die Teller füllt. Jeder bekommt zwei Scheiben Fleisch, einen Löffelvoll Erbsen, einen Brocken Kartoffeln und so weiter. Gefragt, «Warum machst du das?» antwortet sie: «Oh, ich war schon immer so.» Warum? Weil «das einfach meine Art ist!» Ihre Rationalisierung für ihr Verhalten ist ihr eigenes Etikett, das aus ihrer Vergangenheit stammt, in der sie sich eben immer genauso betragen hat.

Wenn man sie auf ihr Verhalten hin anspricht, greifen manche Leute tatsächlich zu allen vier Sätzen auf einmal. Vielleicht fragen Sie mal jemanden, warum er sich denn jedesmal so aufrege, sobald das Thema «Unfälle» angeschnitten werde. Der Betreffende wird vermutlich zur Antwort geben: «Oh, so bin ich eben, und ich war auch schon immer so. Ich kann wirklich nichts machen, das ist halt meine Art.» Donnerwetter! Alle viere auf einen Schlag, und alle zur Begründung, warum man sich niemals ändern wird, ja jeglichen Wandel sogar von vornherein ausschließt.

91

Ihre «Ich bin»-Floskeln zeugen von selbstentwertendem Verhalten. Sie lassen sich alle auf Dinge zurückführen, die Sie in der Vergangenheit gelernt haben. Und jedesmal, wenn Sie einen der vier neurotischen Sätze anbringen, sagen Sie damit in Wirklichkeit: «Und ich habe die Absicht, weiterhin so zu bleiben, wie ich schon immer gewesen bin.»

An Ihnen ist es, sich endlich aus den Fesseln zu lösen, die Sie an Ihre Vergangenheit binden, und die fruchtlosen Sätze aus der Welt zu schaffen, die nur den einen Zweck haben, Sie auf das festzunageln, was Sie schon von jeher gewesen sind.

Die typische «Ich bin …»-Litanei

Ich bin schüchtern
Ich bin träge
Ich bin zaghaft
Ich bin furchtsam
Ich bin unbeholfen
 
Ich bin tolpatschig
Ich bin jähzornig
Ich bin feindselig
Ich bin steif
Ich bin apathisch
Ich bin gelangweilt
Ich bin ein miserabler Koch
Ich bin ziemlich kümmerlich in Rechtschreibung
Ich bin schnell müde
Ich bin kränklich
Ich bin linkisch
 
Ich bin ängstlich
Ich bin vergeßlich
Ich bin handwerklich unbegabt
Ich bin schlecht in Mathematik
Ich bin ein Einzelgänger
Ich bin frigide
 
 
 
 
 
Ich bin dick
Ich bin unmusikalisch
Ich bin unsportlich
Ich bin nachlässig
Ich bin eigensinnig
Ich bin unreif
Ich bin pedantisch
Ich bin unachtsam
Ich bin nachtragend
Ich bin verantwortungslos
Ich bin nervös
 

Ihre persönlichen Etiketten kommen wahrscheinlich mehrmals in dieser Liste vor. Vielleicht basteln Sie auch Ihre eigene Litanei zusammen. Es kommt nicht in erster Linie darauf an, welche Etiketten Sie wählen, sondern daß Sie sich überhaupt darauf einlassen, sich selbst auf 92diese Weise festzulegen. Falls Sie mit irgendeinem dieser «Ich bin»-Sätze aufrichtig zufrieden sind, dann behalten Sie ihn meinetwegen bei. Können Sie aber eingestehen, daß Ihnen manche Ihrer Etiketten gelegentlich zur Last fallen, dann ist es an der Zeit, ein paar Veränderungen vorzunehmen. Lassen Sie uns gleich mit der Untersuchung der Ursprünge der «Ich bin»-Floskeln beginnen.

Die Menschen in Ihrer Umgebung wollen Sie einordnen; Sie werden fein säuberlich kategorisiert und katalogisiert, um dann mit dem entsprechenden Etikett versehen in einer Schublade zu verschwinden. Das erleichtert das Leben. Die Torheit dieses Kennzeichnungsvorgangs hat D. H. Lawrence in seinem Gedicht «What Is He?» gesehen.

Die Ursprünge der «Ich bin …»-Litanei

Die Ursprünge Ihrer «Ich bin»-Sätze fallen in zwei Kategorien. Die eine Sorte von Etiketten stammt aus Ihrer Umwelt. Sie bekamen sie schon als Kind angeheftet und haben sie brav bis heute mit sich herumgetragen. Die anderen Kennzeichen sind das Ergebnis einer Entscheidung, die Sie getroffen haben, um unbequemen oder auch schwierigen Arbeiten aus dem Weg gehen zu können.

Die erste Kategorie ist bei weitem die häufigere. Die kleine Ute ist in der zweiten Klasse. Hoffnungsfroh und beschwingt eilt sie jeden Tag in ihre Malstunde, voller Entzücken über das Anmalen und Herumkleckern mit den Farben. Als die Lehrerin zu ihr sagt, daß sie leider nicht besonders gut sei, bleibt sie nach kurzer Zeit weg, da sie Tadel nicht leiden kann. Bevor Ute es sich versieht, hat ein «Ich bin»-Satz in ihr Wurzeln geschlagen: Ich bin nicht gut im Malen. Mit einigem Vermeidungsverhalten verstärkt sie diese Ansicht, und noch als Erwachsene, als sie gefragt wird, warum sie nicht zeichne, gibt sie zur Antwort: «Oh, das kann ich nicht gut. Das hab ich noch nie gekonnt.» Die meisten «Ich bin»-Sprüche sind verschleppte Überbleibsel aus der Zeit, als Ihnen Dinge zu Ohren kamen wie zum Beispiel: «Er ist ja wirklich ein bißchen unbeholfen; sein Bruder ist ein guter Sportler, aber er ist dafür lerneifrig.» Oder: «Du bist genauso wie ich. Ich hatte auch immer Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung.» Oder: «Billy war schon immer der Schüchterne!» Oder: «Sie kommt ganz nach ihrem 93Vater, der hat die gleiche Brummstimme.» Das sind die Geburtsriten von lebenslangen, niemals angefochtenen, einfach als gegebene Tatsachen hingenommenen Festlegungen.

Sprechen Sie einmal mit den Menschen, die Ihrer Ansicht nach die wichtigste Rolle beim Zustandekommen Ihrer Etiketten gespielt haben. (Eltern, langjährige Freunde der Familie, ehemalige Lehrer, Großeltern und so weiter) Fragen Sie sie nach ihrer Meinung: warum sind Sie wohl so geworden, wie Sie heute sind und waren Sie wohl schon immer genauso? Sagen Sie diesen anderen, daß Sie entschlossen seien, sich zu ändern, und versuchen Sie herauszubekommen, ob die anderen Ihnen das zutrauen. Sie werden staunen über die Interpretationen der anderen und die Bestimmtheit, mit der sie behaupten, Sie könnten unmöglich anders sein, «weil Sie doch schon immer so waren».

Die zweite Kategorie von «Ich bin»-Sätzen ist aus jenen praktischen Schilden entstanden, hinter denen Sie Zuflucht gesucht haben, um unangenehmen Tätigkeiten auszuweichen. Ich arbeite im Augenblick mit einem Klienten, der sechsundvierzig Jahre alt ist und sehr gerne am College studieren möchte, da er, als er im entsprechenden Alter war, durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs daran gehindert wurde. Aber Horace schreckt vor der Aussicht zurück, sich auf intellektuellem Gebiet mit den jungen eben aus der Schule entlassenen Studenten zu messen. Angst vor Versagen und Zweifel an seinen geistigen Fähigkeiten quälen Horace. Er sieht sich zwar regelmäßig College-Jahrbücher an und dank der Rückenstärkung in der Beratung hat er auch die entsprechenden Aufnahmeprüfungen abgelegt und mit einem für die Zulassung zuständigen Angestellten eines örtlichen College ein Gespräch vereinbart. Dennoch verschanzt er sich auch jetzt noch hinter seinen «Ich bin»-Sprüchen, um seinen Plan nicht wirklich durchführen zu müssen. «Ich bin zu alt; ich bin gar nicht intelligent genug; und eigentlich bin ich ja auch gar nicht richtig daran interessiert» – damit rechtfertigt er seine Untätigkeit.

Horace benützt seine «Ich bin»-Formeln, um einer Sache auszuweichen, die er sich aufrichtig wünscht. Ein Kollege von mir dagegen setzt sie ein, um an den Aufgaben vorbeizukommen, die er nicht so gerne mag. Er drückt sich davor, die Türklingel oder das Radio reparieren oder sonst eine lästige Handwerksarbeit leisten zu müssen, indem er seiner Frau immer wieder sagt: «Aber Liebes, du weißt doch, daß ich 94auf diesem Gebiet ein Versager bin!» Diese Art «Ich bin»-Erklärungen gehören zum Anpassungsverhalten, dennoch sind sie unaufrichtige Entschuldigungen. Es fällt leichter, sich mit bloßem «Ich bin …» aus der Affäre zu ziehen, als offen zuzugeben: «Ich finde diese Tätigkeiten reizlos und uninteressant, und ich ziehe es vor, meine gegenwärtigen Augenblicke nicht darauf zu verwenden», was vollkommen verständlich und gesund ist.

In allen diesen Fällen sagt man etwas über sich aus, man erklärt nämlich: «Auf diesem Gebiet bin ich ein fertiges Produkt, und ich werde nie anders sein.» Wenn Sie ein ordentlich verschnürtes und beiseite gestelltes Fertigprodukt sind, können Sie nicht mehr wachsen. Obwohl sie manche Ihrer «Ich bin»-Sätze vielleicht gerne beibehalten wollen, werden Sie womöglich doch entdecken, daß andere sich nur hemmend und selbstzerstörerisch auswirken.

Weiter unten folgt eine Aufstellung von Etiketten, die alle Überreste der Vergangenheit sind. Falls manche davon auf Sie zutreffen, werden Sie sie vielleicht gern verändern wollen. In irgendeiner Hinsicht so zu bleiben, wie man ist, heißt eine jener im ersten Kapitel erwähnten lebensfeindlichen Entscheidungen treffen. Denken Sie daran, daß es hier nicht um eine Erörterung der Dinge geht, die Sie nun halt einfach nicht mögen, sondern um eine Überprüfung bestimmter Verhaltensweisen, die Sie von Aktivitäten fernhalten, aus denen Sie vielleicht sehr viel Freude und Vergnügen schöpfen könnten.

Neun typische «Ich bin …»-Formeln und ihr neurotischer Gewinn

1. Ich bin schwach in Mathematik, Rechtschreibung, Lesen, Sprachen und so weiter
Diese Aussagen garantieren Ihnen, daß Sie die zu einer Veränderung notwendige Anstrengung nicht aufzubringen brauchen. Das «Wissensetikett» soll Ihnen für immer die mühevolle Arbeit ersparen, die nötig wäre, um Lernstoffe zu bewältigen, die Ihnen von jeher schwierig oder langweilig erschienen sind. Solange Sie sich selbst für ungeeignet erklären, haben Sie damit eine sozusagen angeborene Entschuldigung in der Hand, sich mit diesen Gebieten erst gar nicht auseinandersetzen zu müssen.

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2. Ich bin miserabel, wenn es um solche Fertigkeiten geht wie Kochen, Sport, Häkeln, Zeichnen, Theaterspielen und so weiter
Dieses «Ich bin …» garantiert, daß Sie in Zukunft nichts von alledem zu tun brauchen, und obendrein rechtfertigt es jede schwache Leistung in der Vergangenheit. «Ich war schon immer so; es ist halt meine Art.» Ihre Unbeweglichkeit wird infolge dieser Haltung noch weiter bekräftigt, und, was noch wichtiger ist, die Vorstellung verstärkt, daß man etwas nur dann tun sollte, wenn man es wirklich gut kann. Vermeiden wäre demnach besser als Tun, es sei denn, Sie wären der jeweilige Weltmeister.

3. Ich bin schüchtern, zurückhaltend, aufbrausend, nervös, furchtsam und so weiter
Mit den Formeln dieser Kategorie begeben wir uns auf das Feld der Vererbungslehre. Anstatt sie mitsamt dem zugrundeliegenden selbstzerstörerischen Denken in Frage zu stellen, akzeptieren Sie sie bereitwillig als Bestätigung Ihres Wesens, das Sie ja schon immer an sich gehabt haben. Darüber hinaus können Sie die Verantwortung auf diese Weise Ihren Eltern zuschieben und sie als die Ursache Ihres gegenwärtigen «Ich bin»-Etiketts hinstellen. Indem Sie alle Verantwortung Ihren Eltern aufbürden, brauchen Sie sich nicht um Veränderung zu bemühen. Dieses Verhalten bringt Ihnen den Vorteil, sich in bestimmten Situationen, die Sie schon immer als schwierig empfunden haben, nicht behaupten zu müssen. Bei dieser «Ich bin»-Formel handelt es sich um ein Überbleibsel aus Ihrer Kindheit, in der andere ein eigenes Interesse daran hatten, Ihnen weiszumachen, Sie könnten nicht für sich selbst denken. Wir haben es hier mit «Persönlichkeitsetiketten» zu tun. Mit ihrer Hilfe können Sie dem mühevollen Geschäft, anders zu werden, als Sie schon immer gewesen sind, ausweichen. Sie definieren Ihre Persönlichkeit kurzerhand mit einer passenden «Ich bin»-Formel und behaupten damit einfach, Ihre selbstgefährdenden Verhaltensweisen lägen außerhalb Ihrer Kontrolle. Sie leugnen ab, daß Sie Ihre eigene Persönlichkeit selbst wählen können; statt dessen ziehen Sie sich auf Ihr genetisches Pech zurück, um alle jene Persönlichkeitsmerkmale einfach wegzuerklären, von denen Sie sich gerne distanzieren möchten.

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4. Ich bin unbeholfen, ungelenk und so weiter
Diese «Ich bin»-Kennzeichen, die Sie als Kind erlernt haben, befähigen Sie, möglichem Spott zuvorzukommen, den Sie vielleicht auf sich ziehen könnten, weil Sie körperlich weniger gewandt sind als andere. Ihr Mangel an Geschick rührt jedoch keineswegs von einem körperlichen Defekt her, sondern aus Ihrer Vorgeschichte, in der Sie diese Kennzeichen für bare Münze genommen und sportliche Aktivitäten gemieden haben. Sie können nur solche Disziplinen beherrschen, die Sie tatsächlich betreiben, nicht solche, die Sie meiden. Behalten Sie Ihr «Ich bin …»-Schild nur weiterhin um den Hals und stehen Sie damit als sehnsüchtiger Zuschauer am Rande, der nach außen so tut, als wäre er an der ganzen Sache überhaupt nicht interessiert.

5. Ich bin reizlos, häßlich, grobknochig, unscheinbar, zu groß und so weiter
Mit dem anderen Geschlecht keinerlei Risiken eingehen zu müssen und Ihre Wahl eines armseligen Selbstbildes sowie eines liebelosen Lebens zu rechtfertigen – dafür leisten diese körperlichen Etiketten gute Dienste. Solange Sie sich in dieser Weise beschreiben, verfügen Sie über eine vorgefertigte Entschuldigung, um in einer Liebesbeziehung nichts von sich aufs Spiel setzen zu müssen. Außerdem brauchen Sie sich nicht die Mühe zu machen, auch in Ihren eigenen Augen attraktiv auszusehen. Ihr Spiegel liefert Ihnen die Rechtfertigung dafür, nichts zu wagen. Das einzige Problem dabei ist dies: Wir sehen immer genau das, was wir sehen wollen – sogar im Spiegel.

6. Ich bin unordentlich, pedantisch, nachlässig und so weiter
Diese «Verhaltensetiketten» eignen sich vorzüglich, um andere zu manipulieren und darauf zu bestehen, daß alles in ganz bestimmten Bahnen ablaufen muß. «Ich habe das schon immer so gemacht! …» Als ob Tradition an sich schon ein Grund wäre, irgend etwas zu tun. «... und ich werde es auch weiter so machen» – das schwingt unausgesprochen in diesen Formeln mit. Wenn Sie sich darauf berufen, daß Sie etwas von jeher so gemacht hatten, brauchen Sie nie der gefährlichen Vorstellung ins Auge zu blicken, es vielleicht auch einmal anders zu machen, und zugleich können Sie durchsetzen, daß alle anderen um Sie herum es genauso machen wie Sie. Die «Ich bin»-Sprüche 97dieser Kategorie setzen «taktisches Vorgehen» an die Stelle eigenen Denkens.

7. Ich bin vergeßlich, unachtsam, verantwortungslos, gleichgültig und so weiter
Bei der Rechtfertigung untauglichen Verhaltens leisten die Etiketten dieser Art besondere Dienste. Sie bewahren Sie davor, jemals an Ihrem Gedächtnis oder Ihrer Unachtsamkeit arbeiten zu müssen; statt dessen entschuldigen Sie sich mit einem handlichen «So bin ich eben». Solange Sie diese Erklärung immer parat haben, wenn Sie sich auf eine der oben erwähnten Weisen verhalten, werden Sie sich nie mit Ihrer Veränderung herumplagen müssen. Laufen Sie nur weiter mit Ihrem Sieb im Kopf herum, und sagen Sie sich beständig, daß Sie nichts dafür können – und Sie werden bestimmt Ihr Leben lang vergeßlich sein.

8. Ich bin herrschsüchtig, antreiberisch, autoritär und so weiter
Dank Ihres in diesem Bereich geltenden «Ich bin»-Spruchs können Sie sich anderen gegenüber weiterhin feindselig benehmen, anstatt sich zu bemühen, mehr Selbstdisziplin zu entwickeln. Sie beschönigen Ihr Verhalten einfach mit einem «Ich kann nichts dafür, ich war doch schon immer so.»

9. Ich bin alt, in mittleren Jahren, müde und so weiter
Mit diesen Etiketten können Sie Ihr Alter als Vorwand benützen, um nicht an vermeintlich riskanten oder bedrohlichen Unternehmungen teilnehmen zu müssen. Jedesmal, wenn Sie sich sportlichen Aktivitäten gegenübersehen, wenn es nach einer Scheidung oder dem Tod des Gatten darum geht, jemand Neuen kennenzulernen, bei Reisen und ähnlichem, winken Sie einfach ab: «Ich bin zu alt!» Damit haben Sie alle etwaigen Risiken, die mit dem Ausprobieren neuer und wachstumsfördernder Erlebnisse verbunden sein könnten, von vornherein ausgeschaltet. Ein auf Ihr Alter bezogener «Ich bin»-Spruch deutet darauf hin, daß Sie auf diesem Gebiet absolut fertig und unveränderbar dastehen und daß Sie, da Sie ja jeden Tag noch älter werden, aufgehört haben, zu wachsen und Neues zu erleben.

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Der «Ich bin …»-Kreislauf

Der entstehende Gewinn aus dem mit Ihren «Ich bin»-Floskeln verbundenen Festhalten an Ihrer Vergangenheit läßt sich leicht mit einem Wort ausdrücken: Vermeidung. Immer wenn Sie einer bestimmten Betätigung aus dem Wege gehen oder einen Persönlichkeitsdefekt verbergen wollen, bleibt Ihnen die Ausrede eines «Ich bin»-Satzes. Wenn Sie lange genug mit diesen Etiketten umgehen, fangen Sie tatsächlich an, selbst daran zu glauben, und in dem Augenblick sind Sie ein Fertigerzeugnis, das bis ans Ende Ihrer Tage so bleiben soll, wie es ist. Mit Hilfe der Etiketten sind Sie in der Lage, die harte Anstrengung und das Risiko zu meiden, die der Versuch, sich selbst zu ändern, mit sich bringen würde. Auf diese Weise tragen die Selbstbeschreibungen zum Fortbestand des Verhaltens bei, aus dem sie erwachsen sind. Ein junger Mann, der überzeugt von seiner Schüchternheit auf eine Party geht, wird sich daher so benehmen, als ob er schüchtern sei, und dieses Verhalten wird wiederum sein Selbstbild weiter bekräftigen. Ein Teufelskreis.

Kreislauf 1

Da haben wir es. Anstatt den Kreis zwischen Punkt 3 und 4 zu unterbrechen, spricht er sein Verhalten einfach nur mit einem «Ich bin»-Urteil frei; das Risiko, mit dem das Entkommen aus seiner Falle notwendig verbunden ist, vermeidet er geschickt. Für die Schüchternheit 99des jungen Mannes mag es viele Gründe geben, von denen einige wahrscheinlich auf seine Kindheit zurückgehen. Gleichgültig, woher seine Angst auch stammen mag, er hat beschlossen, sich nicht um seine soziale Scheu zu kümmern, sondern sie mit einem schlichten «Ich bin …» hinwegzudefinieren. Seine Angst vor Versagen ist so stark, daß sie ihn vor jedem Versuch zurückhält. Hielte er auf den gegenwärtigen Augenblick und die Möglichkeit der Wahl, dann würde er seinen inneren Satz von «Ich bin schüchtern» umändern in «Bis jetzt habe ich mich schüchtern verhalten».

Der Teufelskreis der Schüchternheit ist entsprechend auf fast alle selbstherabmindernden Etiketten anwendbar. Denken Sie einmal über den Kreislauf eines Schülers nach, der sich selbst für schwach in Mathematik hält und nun seine Algebrahausaufgaben in Angriff nimmt.

Kreislauf 2

Anstatt zwischen 3 und 4 haltzumachen, sich mehr Zeit zu nehmen, bei einem Tutor Rat zu holen oder sich eben gehörig ins Zeug zu legen, schmeißt er alles hin. Auf die Frage, warum er in Algebra durchgefallen ist, wird er dann erklären: «In Mathematik war ich schon immer eine Niete!» Zu diesen teuflischen Etiketten also nimmt man Zuflucht, um sich herauszureden und den anderen klarzumachen, warum man weiter an einem selbstschädigenden Verhaltensmuster festhält.

Sie können sich nun Ihrem eigenen Kreislauf neurotischer Logik zuwenden und damit anfangen, alle die Seiten Ihres Lebens in Frage zu 100stellen, in denen Sie sich für die Existenz eines Fertigprodukts entschieden haben. Auf das Anklammern an Ihre Vergangenheit und Ausruhen auf Ihren verschiedenen «Ich bin»-Sprüchen steht als Gratifikation Nummer eins die Vermeidung allen Wandels. Denken Sie sich selbst jedesmal, wenn Sie in Zukunft wieder so ein «Ich bin»-Schild als Entschuldigung vorweisen für ein Verhalten, das Ihnen nicht paßt,in so eine farbenfrohe Schachtel hinein, als ordentlich verpackte fertige Ware.

Sich zu kennzeichnen ist sicherlich einfacher, als sich zu ändern. Vielleicht suchen Sie die Ursprünge Ihrer Etiketten bei Ihren Eltern oder anderen wichtigen Erwachsenen Ihrer Kindheit wie Lehrern, Nachbarn und Großeltern. Indem Sie sie für Ihr gegenwärtiges Etikett verantwortlich machen, räumen Sie ihnen zugleich Einflußmöglichkeiten auf Ihr momentanes Leben ein, gewähren ihnen darin einen wichtigeren Platz als sich selbst und schaffen sich schließlich geschickt ein Alibi, um weiter in Ihrem unfruchtbaren Zustand auszuharren. Eine raffinierte Entschädigung, in der Tat, verschafft sie Ihnen doch die Garantie ungefährdeter Sicherheit. Wenn die Umwelt die Schuld an Ihren Selbstdefinitionen trägt, können Sie selbstverständlich nichts dagegen tun.

Wie man sich von der Vergangenheit und leidigen Etiketten befreit

Ohne Risiken auf sich zu nehmen, kann man die Vergangenheit nicht zurücklassen. Ihre Selbstdefinitionen sind Ihnen zur festen Gewohnheit geworden, und im täglichen Leben wirken sie nicht selten wie ein psychisches Korsett. Spezifische Strategien zur Beseitigung Ihrer «Ich bin»-Charakterisierungen sind unter anderem:

Ihre Beschreibungen Ihrer selbst sind allesamt erlernte Verhaltensmuster der Vermeidung. Sie können lernen, so gut wie alles zu sein, was Sie sein wollen – wenn Sie sich dazu entschließen.

Einige Schlußgedanken

Es gibt keine «menschliche Natur». Dieser Ausdruck dient von vornherein nur dem Zweck, Menschen zu klassifizieren, und außerdem muß er noch für alles mögliche als Entschuldigung herhalten. Sie sind nichts anderes als die Summe Ihrer Entscheidungen; jedes «Ich bin», das Ihnen ans Herz gewachsen ist, könnte genausogut umbenannt werden in «Ich habe beschlossen, … zu sein». Denken Sie an die Anfangsfragen dieses Kapitels zurück: Wer sind Sie? Und: Wie beschreiben Sie sich? Lassen Sie sich ein paar schöne neue Etiketten einfallen, die weder mit den Entscheidungen anderer, noch mit denen, die Sie selbst getroffen haben, in Zusammenhang stehen. Jene alten abgebrauchten Selbstbeschreibungen hindern Sie nur daran, Ihr Leben wirklich voll auszuschöpfen.

«Das beste Mittel gegen Traurigkeit ist», entgegnete Merlin und paffte heftig vor sich hin, «etwas zu lernen. Das ist das einzige, was einen nie im Stich läßt. Du kannst alt werden und zittrig und klapprig, du kannst nächtens wach liegen und dem Durcheinander deiner Adern, dem wirren Gewühl deiner Gedanken lauschen, du kannst dich nach deiner großen Liebe verzehren, du kannst zusehn müssen, wie die Welt um dich her von bösartigen Irren verheert und verwüstet wird, oder wissen, daß kleine Geister deine Ehre in den Schmutz treten. Da gibt's 103nur eines: lernen. Lernen, weshalb die Welt wackelt und was sie wackeln macht. Das ist das einzig Unerschöpfliche, Unveräußerliche. Nie kann's dich quälen, niemals dir Angst einjagen oder Mißtrauen einflößen, und niemals wirst du's bereuen. Lernen mußt du, nichts anderes. Überleg doch mal, was es alles zu lernen gibt – reine Wissenschaft, die einzig vorhandene Reinheit. Astronomie kannst du in einer Lebensspanne lernen, Naturgeschichte in dreien, Literatur in sechsen. Und dann, wenn du Milliarden Leben mit Biologie und Medizin zugebracht hast, mit Theo-Kritik und Geographie und Geschichte und Wirtschaftswissenschaft – nun, dann kannst du anfangen zu lernen, wie man aus dem richtigen Holz ein Wagenrad macht, oder fünfzig Jhare lang lernen, wie man lernt, seinen Gegner beim Fechten zu besiegen. Danach kannst du wieder mit der Mathematik anfangen, bis es Zeit ist, pflügen zu lernen.»[5]

Ein jedes «Ich bin …», das Sie in Ihrer Entfaltung behindert, ist ein böser Dämon, der ausgetrieben werden muß. Wenn Sie es ohne Etikett einfach nicht aushalten, dann probieren Sie es einmal mit diesem: «Ich bin ein Streiter wider den bösen Geist des Etikettaufklebens – und ich fühle mich wohl dabei.»

104

V.
Schuldgefühle und Sorgen:
Emotionen die nichts bringen

Wenn Sie glauben, vergangene oder zukünftige Ereignisse
dadurch beeinflussen zu können, daß Sie sie bedauern
oder sich lange genug darüber Sorgen machen,
dann sind Sie auf einem fremden Planeten
mit anderen Realitätsbegriffen zu Hause.

Die beiden nichtigsten Gefühle in unserem Leben sind Schuldgefühle wegen bereits geschehener und Sorgen um in der Zukunft geschehende Dinge. Und damit haben wir sie schon vor uns, die große doppelte Verschwendung: Sorgen & Schuldgefühle, Schuldgefühle & Sorgen. Bei der Erforschung dieser seelischen Problemzonen werden Sie bald bemerken, wie eng beide miteinander zusammenhängen. Tatsächlich können sie als die einander entgegengesetzten Pole derselben Zone gelten.

Schuldgefühle und Sorgen

So also sieht es aus damit. Schuldgefühle lähmen Sie in Ihren gegenwärtigen Augenblicken als Folge zurückliegenden Verhaltens; Sorgen dagegen hemmen Sie im Jetzt und Hier wegen etwas in der Zukunft Liegendem – wobei es häufig sogar um Dinge geht, auf die Sie gar keinen Einfluß haben. Sie werden das ohne weiteres einsehen, wenn Sie sich vorstellen, Sie quälten sich wegen einer Sache, die erst noch kommen muß, mit Schuldgefühlen herum oder Sie dächten voller Sorge an ein Ereignis, das schon lange vorbei ist. Obgleich die eine Reaktion auf die Zukunft, die andere auf die Vergangenheit bezogen ist, dienen sie doch beide dem gleichen Zweck, nämlich: Sie in der Gegenwart zu beunruhigen und zu lähmen. In «Golden Day» schreibt Robert Jones Burdette:

105

«Es ist nicht das Erleben des Heute, das die Menschen in den Wahnsinn treibt. Es ist vielmehr die Reue über etwas, was gestern geschehen ist und die Furcht vor dem, was das Morgen enthüllen mag.»

Das Auftreten von Schuldgefühlen und Sorgen können Sie überall beobachten, praktisch bei jedem Menschen, dem Sie begegnen. Es wimmelt auf der Welt von Leuten, die entweder Seelenqualen leiden wegen einer Tat, die sie nicht hätten tun sollen oder aber mutlos auf Dinge starren, die möglicherweise geschehen könnten. Vermutlich bilden Sie selbst keine Ausnahme. Für den Fall, daß Sie ausgeprägte Schuldgefühle und Sorgen haben, müssen Sie sie endgültig aus Ihrem Leben verbannen. Rotten Sie die ganzen Schulderreger und Sorgenviren erbarmungslos aus, die sich in vielen Bereichen Ihres Lebens eingenistet haben!

Schuldgefühle und Sorgen sind wohl mit einigem Recht als die verbreitetsten Formen des Leidens in unserer Kultur anzusehen. Die ersteren bringen Sie dazu, sich ganz auf ein früheres Ereignis zu konzentrieren, sich niedergedrückt oder aufgebracht zu fühlen wegen vergangener Dinge, die Sie gesagt oder getan haben und Ihre gegenwärtigen Augenblicke ganz mit Gefühlen über längst abgetanes Verhalten auszufüllen. Über letzteren verschwenden Sie das kostbare Jetzt, indem Sie sich mit zukünftigen Dingen herumschlagen. Ob Sie nun den Blick nach hinten oder nach vorne gerichtet halten – das Ergebnis bleibt sich gleich. Sie werfen den gegenwärtigen Augenblick kurzerhand weg. Robert Burdettes «Goldener Tag» ist wirklich «heute», und die in Schuldgefühlen und Sorgen liegende Torheit faßt er in die Worte:

«Es gibt zwei Tage in der Woche, die mir prinzipiell nie Kummer machen. Zwei sorglose Tage, die ich unverbrüchlich freihalte von Befürchtungen und Bedenken. Der eine dieser Tage ist gestern … und der andere Tag, der mir niemals Sorgen macht, ist morgen …»

Schuldgefühle aus der Nähe betrachtet

Viele von uns sind in ihrem Leben die Opfer eines Schuldkomplottes geworden, einer ungeplanten Verschwörung, die uns in wahrhafte Schuldautomaten verwandeln möchte. So ein Automat funktioniert folgendermaßen: Jemand sendet ein bestimmtes Signal aus und erinnert 106Sie damit daran, daß Sie sich mit irgend etwas, was Sie gesagt oder nicht gesagt, gefühlt oder auch nicht gefühlt, getan – oder unterlassen haben, als ein schlechter Mensch gezeigt haben. Sie reagieren prompt, indem Sie sich sofort niedergeschmettert fühlen. Sie sind ein Schuldautomat, ein sprechender, atmender Apparat auf zwei Beinen, der auf den Einwurf der «passenden Münze» stets gehorsam mit Gewissensbissen reagiert. Und Sie funktionieren reibungslos, nachdem Sie einer Gesellschaft, deren Maximen Schuldgefühle geradezu herausfordern, voll ausgesetzt gewesen sind.

Warum haben Sie die Sorgen- und Schuldsignale, die Ihr ganzes Leben lang auf Sie herabregneten, widerspruchslos akzeptiert? Wohl vor allem deswegen, weil es als «schlecht» gilt, sich nicht schuldig zu fühlen, und als «unmenschlich», sich keine Sorgen zu machen. Es hängt alles mit dem Sichkümmern zusammen. Ist Ihnen wirklich an anderen Menschen oder auch Dingen etwas gelegen, so heißt es, dann muß sich Ihre Anteilnahme durch Reue über das Schreckliche, was Sie verbrochen haben, bemerkbar machen und weiterhin in einem sichtbaren Beweis, daß Ihnen die Zukunft dieser anderen das Herz beschwert, zum Ausdruck kommen. Es scheint fast, als ob Sie eine Neurose zur Schau tragen müßten, um als wohlmeinender Mensch anerkannt zu werden.

Unter den Verhaltensweisen, die mit bestimmten seelischen Problemzonen einhergehen, sind Schuldgefühle bei weitem die fruchtlosesten. Sie verursachen die größte Vergeudung emotionaler Energie. Weshalb? Weil sie uns per definitionem in unseren gegenwärtigen Augenblicken durch die Fesseln der Vergangenheit behindern. Aber die Geschichte läßt sich selbst durch den verschwenderischsten Aufwand an Schuldgefühlen nicht mehr ändern.

Schuldgefühle verhindern das Lernen aus der Vergangenheit.

Schuldgefühle sind mehr als bloßes Interesse an der Vergangenheit. Sie bringen eine aktuelle Lähmung als Folge eines zurückliegenden Vorfalls mit sich. Die Stärke dieser Lähmung kann zwischen leichter Beunruhigung und schwerer Depression liegen. Wenn Sie aus der Vergangenheit lernen und sich vornehmen möchten, einzelne Verhaltensweisen abzulegen, dann sind das noch keine Schuldgefühle. Die empfinden Sie erst, wenn ein bestimmtes früheres Verhalten Sie davon 107abhält, im Jetzt zu handeln.

Aus seinen Fehlern zu lernen ist gesund und für weiteres Wachstum notwendig. Schuldgefühle jedoch schaden Ihnen, sie hindern Sie daran, die Gegenwart intensiv zu erleben, weil Sie sich durch ein historisches Geschehen verletzt, beunruhigt oder deprimiert fühlen. Indes können alle Schuldgefühle der Welt nichts ungeschehen machen.

Die Ursachen der Schuldgefühle

Auf zweierlei Weise können Schuldgefühle Eingang in die Gefühlswelt einer Person finden. Sie können einmal sehr früh erlernt worden und beim Erwachsenen als Überreste kindlicher Reaktionen weiter vorhanden sein. Zum anderen kann sich der Erwachsene aber auch für die Übertretung eines Kodex, den anzuerkennen er vorgibt, selbst mit Schuldgefühlen bestrafen.

1. Verinnerlichte Schuldgefühle: Hierbei handelt es sich um emotionale Reaktionen, die aus Kindheitserinnerungen herrühren. Diese Schulderzeuger treten in hellen Scharen auf und erreichen bei Kindern normalerweise auch ihren Zweck. Allerdings tragen auch viele Erwachsene sie immer noch mit sich herum. Zu diesen Überbleibseln zählen Mahnungen wie:

«Pap mag dich nicht mehr, wenn du das noch einmal tust.»

«Du solltest dich was schämen!» (Als ob Ihnen das etwas helfen würde.)

«Na ja, schon gut. Ich bin ja auch nur deine Mutter.»

Die in diesen Sätzen enthaltenen Andeutungen können auch beim Erwachsenen noch ein schlechtes Gewissen hervorrufen, zum Beispiel wenn er seinen Chef oder andere Menschen, die er als Elternfiguren aufgebaut hat, enttäuscht. Genau wie er immer noch beharrlich versucht, die Rückendeckung dieser anderen zu erlangen, leidet er auch immer noch an Schuldgefühlen, wenn seine Anstrengungen fehlschlagen.

Beim Sex und in der Ehe machen sich zurückbehaltene Schuldgefühle ebenfalls bemerkbar. In den immer wiederkehrenden Selbstanklagen und Entschuldigungen für vergangenes Verhalten werden sie augenfällig. Diese aktuellen Schuldreaktionen sind das Ergebnis eines Erziehungsprozesses, 108in dem das Kind gelernt hat, sich von Erwachsenen manipulieren zu lassen. Auch wenn das Kind schon lange erwachsen ist, können sie noch weiter ablaufen.

2. Selbstauferlegte Schuldgefühle: In der zweiten Kategorie der Schuldreaktionen sieht es wesentlich unerfreulicher aus. In dieser Zone fühlt sich der einzelne zwar durch Dinge gelähmt, die noch nicht so lange zurückliegen, doch geht es dabei um Handlungen, die nicht notwendigerweise mit seiner Kindheit in Verbindung stehen. Diese Schuldgefühle legt sich der einzelne selbst auf, wenn er Erwachsenenvorschriften und -moralgesetze übertreten hat. Obwohl alle Selbstquälerei an dem Geschehenen nichts ändern kann, ist er womöglich lange Zeit voller Selbstzerknirschung. Typische Fälle solcher selbstauferlegter Schuldgefühle sind zum Beispiel: jemanden abkanzeln und sich dann aus tiefster Seele dafür hassen, oder sich wegen eines Ladendiebstahls, eines versäumten Gottesdienstes oder einer weit zurückliegenden unpassenden Bemerkung auf einmal emotional wie ausgeleert fühlen.

Demnach sind Ihre Schuldgefühle also entweder Reaktionen auf fremde Normen, die Sie immer noch mit sich herumschleppen und mit denen Sie nach wie vor den Beifall einer nicht anwesenden Autoritätsperson erringen wollen, oder aber sie sind das Ergebnis des Versuchs, selbstgesetzten Normen zu genügen, von denen Sie im Grunde nicht wirklich überzeugt sind, die Sie aber nach außen hin doch anerkennen. Schuldgefühle sind in jedem Falle nicht allein törichte, sondern in erster Linie nutzlose Verhaltensweisen. Auch wenn Sie Ihre eigene Schlechtigkeit noch so sehr beklagen und sich bis an Ihr Lebensende in Sack und Asche hüllen, können Sie vergangenes Verhalten nicht mehr korrigieren. Es ist vorbei! Ihre Reue ist nichts anderes als der Versuch, die Geschichte noch nachträglich zu ändern und der Wunsch, sie wäre nicht so, wie sie ist. Aber am Vergangenen läßt sich nicht mehr rütteln, da hilft alles nichts.

Lernen Sie, gegenüber den Dingen, die Ihnen Gewissensbisse einflößen, allmählich eine neue Haltung einzunehmen. Unsere Kultur enthält zahlreiche Elemente puritanischen Denkens, die Ihnen suggerieren: «Wenn etwas dir Spaß macht, mußt du dich deswegen auch schuldig fühlen!» Nicht wenige unserer selbstauferlegten Schuldgefühle gehen auf diese Einflüsse zurück. Vielleicht hat man Ihnen eingeschärft, 109sich selbst gegenüber unnachsichtig zu sein, niemals über zweideutige Witze zu lachen und bestimmte sexuelle Praktiken nicht mitzumachen. Obwohl bestimmte Signale, die darauf abzielen, Sie einzuengen, in unserer Kultur allgegenwärtig sind, haben Sie sich Schuldgefühle wegen genossenen Vergnügens doch immer selbst eingeredet.

Sie können lernen, Ihr Leben ohne ständige Schuldgefühle zu genießen. Sie können lernen, sich selbst als einen Menschen zu betrachten, der alles tun kann, was seinem eigenen Wertesystem entspricht und anderen keinen Schaden zufügt – und zwar ohne Schuldgefühle. Wenn Sie etwas tun – gleichgültig was – und dann hinterher entweder mit Ihrer Tat oder sich selbst unzufrieden sind, dann können Sie sich selbstverständlich vornehmen, solches Verhalten in Zukunft zu unterlassen. Aber auf den neurotischen Trip eines selbstverhängten Schuldspruches brauchen Sie sich nicht einzulassen. Schuldgefühle nützen Ihnen nichts. Sie wirken nicht allein lähmend, sondern erhöhen überdies noch die Wahrscheinlichkeit, daß das unerwünschte Verhalten erneut auftritt. Sie sind oftmals nicht nur ihre eigene Belohnung, sondern auch der Freibrief, sich erneut in der gleichen Weise zu verhalten. Solange Sie sich mögliche Erleichterung verschaffen, indem Sie sich mit Hilfe von Schuldgefühlen selbst freisprechen, brauchen Sie auch nicht aus der tückischen Tretmühle auszubrechen, die Ihnen nichts als Unglücklichsein in Ihren gegenwärtigen Augenblicken bringen kann.

Klassische Bereiche und Reaktionen, wo Schuldgefühle auftreten

Das Kind mit Hilfe von Schuldgefühlen dazu bringen, einen Auftrag auszuführen:

Mutter: «Janni, hol die Stühle aus dem Keller! Wir essen gleich.»
Kind: «In Ordnung, Mutti. Ich schau mir grad das Fußballspiel an, ich geh gleich, nach diesem Elfmeter.»
Elterliches Schuldsignal: «Laß mal, dann geh ich eben selber – mit meinem schlimmen Rücken. Bleib du nur sitzen und hab deinen Spaß.»

110

Janni hat Zwangsvorstellungen, daß seine Mutter dabei stolpert und unter sechs Stühlen begraben wird. Und schuld hat er.

Die Denkweise des «Was hab ich nicht alles für dich aufgegeben» ist ein äußerst wirkungsvoller Schulderzeuger. Damit können Eltern die harten Zeiten heraufbeschwören, in denen sie auf ihr Glück verzichtet haben, um Ihnen etwas zukommen zu lassen. Nachdem Sie so an Ihre Schulden erinnert worden sind, fragen Sie sich natürlich, wie Sie bloß so selbstsüchtig sein konnten. Eine weitere Spielart dieser schuldhervorrufenden Haltung sind Hinweise auf die Schmerzen des Gebärens. «Achtzehn Stunden lang hab ich in den Wehen gelegen, um dich auf die Welt zu bringen.» Noch eine wirkungsvolle Behauptung: «Nur deinetwegen bin ich bei deinem Vater geblieben.» Sie ist dazu bestimmt, Ihnen Schuldgefühle wegen der unglücklichen Ehe, die Ihre Mutter führt, einzuflößen.

Mit der Schuldmethode läßt sich das Verhalten des Kindes manipulieren. «Schon gut. Dann bleiben wir eben allein hier. Du gehst und vergnügst dich, wie du's schon immer getan hast. Mach dir um uns keine Sorgen.» Bemerkungen dieser Art bringen Sie mit Erfolg dazu, regelmäßig anzurufen oder zu Besuch zu kommen. In einer anderen Variation hört es sich so an: «Na, was passiert bei euch? Hast den Finger gebrochen, daß du unsere Nummer nicht mehr wählen kannst?» Die Eltern werfen die Schuldmaschine an und Sie reagieren, wenn auch mit zusammengebissenen Zähnen, auf das Signal.

Auf die «Du hast uns Schande gemacht»-Taktik erweist sich als ergiebig. Und: «Was sollen denn die Nachbarn denken?» Fremde Truppen müssen aufmarschieren, um Ihnen den Kopf zurechtzusetzen und zu verhindern, daß Sie für sich selbst entscheiden. Der Schuldspruch des «Wenn dir jemals etwas danebengeht, blamierst du uns» kann es Ihnen nach einer dürftigen Leistung sehr schwer machen, weiterhin mit sich selbst auszukommen.

Elterliche Krankheiten funktionieren als Superschuldquelle. «Deinetwegen ist mein Blutdruck wieder gestiegen!» Winke wie «Du bringst mich noch ins Grab» oder «Ich krieg noch mal einen Herzanfall» sind Stacheln, die ihre Wirkung genausowenig verfehlen wie Vorwürfe wegen buchstäblich aller Gebrechen, die das Altern normalerweise mit sich zu bringen pflegt. Für dieses Schuldenbündel brauchen Sie breite Schultern, tragen Sie es vielleicht doch Ihr Leben lang mit sich 111herum. Wenn Sie besonders verwundbar sind, dann kommt die Schuld am Tod Ihrer Eltern womöglich noch dazu.

Sexuelle, durch die Eltern erzeugte Schuldgefühle sind weitverbreitet. Alle mit der Sexualität zusammenhängenden Gedanken und Verhaltensweisen bilden einen fruchtbaren Nährboden für Selbstanklagen. «Masturbiere ja nicht, daß Gott behüte! Das ist böse.» Schuldgefühle leiten Sie schon ins richtige Gleis. «Du solltest dich schämen, solche Hefte zu lesen. An so was solltest du nicht einmal denken!»

Selbstverständlich dienen Schuldgefühle dazu, sozial angemessenes Verhalten einzuschleifen. «Wie konntest du mich nur so in Verlegenheit bringen und dir vor deiner Großmutter in der Nase bohren!» – «Du hast nicht danke gesagt, pfui schäm dich! Sollen unsere Freunde denn glauben, ich hätte dir rein gar nichts beigebracht?» Man kann einem Kind jedoch helfen, sozial annehmbares Verhalten ohne damit einhergehende Schuldgefühle zu lernen. Ein einfacher Hinweis, dem die Erklärung vorausgeschickt wurde, warum ein bestimmtes Verhalten unerwünscht ist, ist sehr viel fruchtbarer. Sagt man Janni zum Beispiel, sein unablässiges Dazwischenreden sei störend und mache eine Unterhaltung unmöglich, dann bekommt er eine erste Ahnung von dem, was von ihm verlangt wird. Damit sind keine Schuldgefühle verbunden, wie etwa die folgende Zurechtweisung sie hervorruft: «Dauernd mußt du uns unterbrechen, du solltest dich was schämen, es ist ja ganz unmöglich zu erzählen, wenn du dabei bist!»

Erwachsenwerden allein setzt der elterlichen Manipulation mittels Schuldgefühlen noch kein Ende. Ich habe einen Freund, der zweiundfünfzig Jahre alt ist, Kinderarzt, von jüdischer Herkunft und mit einer Nichtjüdin verheiratet. Er hält seine Ehe vor seiner Mutter geheim, aus Furcht, das könne sie umbringen oder genauer: er könne sie umbringen. Deswegen hält er sich weiterhin eine kleine Wohnung mit den ganzen üblichen Haushaltsapparaten, nur zu dem Zweck, darin jeden Sonntag seine fünfundachtzigjährige Mutter zu empfangen. Sie weiß nichts davon, daß er verheiratet ist und sein eigenes Haus hat, in dem er sechs Tage in der Woche wohnt. Infolge seiner Furcht und der Gewissensbisse, mit einer «Schickse» verheiratet zu sein, hat er sich auf dieses Spielchen eingelassen. Obwohl er ein ausgewachsener, in seinem Beruf überaus erfolgreicher Mann ist, wird er immer noch von seiner Mutter beherrscht. Jeden Tag ruft er sie von seiner Praxis aus an und spiegelt 112ihr ein imaginäres Junggesellenleben vor.

Von den Eltern und der Familie eingegebene Schuldgefühle sind als die gebräuchlichste Maßnahme zu bezeichnen, eine aufbegehrende Person im Zaum zu halten. Die oben angeführten Beispiele sind ja nicht mehr als eine kleine Kostprobe aus der Vielzahl von Redensarten und Kunstgriffen, mit denen ein Sohn oder eine Tochter veranlaßt werden sollen, Schuldgefühle (durch vergangene Begebenheiten verursachte gegenwärtige Lähmung) als den Preis ihrer Familienzugehörigkeit zu wählen.

Mit Liebes- und Ehepartnern verbundene Schuldgefühle

Mit dem «Wenn du mich liebtest …»-Vorwurf kann ein geliebter Mensch unter Druck gesetzt werden. Diese Taktik kommt immer dann besonders gelegen, wenn man seinen Partner für ein spezielles Verhalten strafen möchte. Als ob die Liebe vom richtigen Verhalten abhängig wäre. Immer wenn eine Person nicht spurt, kann sie mit Hilfe von Schuldgefühlen rasch wieder auf den richtigen Weg gebracht werden. Sie muß sich schuldig fühlen, weil sie den anderen nicht genug geliebt hat.

Grollen, anhaltendes Schweigen und leidende Blicke machen dem anderen klar, was er verbrochen hat. «Ich spreche nicht mehr mit dir, ich werd's dir schon zeigen!», oder «Komm mir bloß nicht zu nahe, wie könnte ich dich denn mit offenen Armen empfangen, nach dem, was du getan hast.» Diese weitverbreitete Taktik wird vor allem in dem Fall angewendet, daß einer der Partner einen Seitensprung begangen hat.

Oft wird eine bestimmte Handlung noch Jahre danach wieder herausgekramt, um den anderen dazu zu bringen, sich im gegenwärtigen Augenblick schuldig zu fühlen. «Aber denk daran, was du 1951 getan hast», oder «Wie könnte ich dir je wieder vertrauen, nachdem du mich schon einmal enttäuscht hast?» Auf diese Weise kann ein Partner die Gegenwart des anderen mit Hinweisen auf die Vergangenheit bestimmen. Wenn der eine endlich vergessen hat, bringt der andere die Sache turnusmäßig wieder aufs Tapet, um die Schuldgefühle wegen etwas Vergangenem weiter warmzuhalten.

Kleine Nadelstiche treiben den anderen dazu, sich den eigenen Forderungen 113und Verhaltensnormen anzupassen. «Wenn du verantwortungsbewußt wärst, hättest du mich angerufen», heißt es da, und auch «Das ist jetzt schon das dritte Mal, daß ich den Müll ausleere. Ich nehme an, du willst dich vor deinem Anteil einfach drücken.» Das Ziel? Den Partner dazu zu bewegen, sich den eigenen Wünschen entsprechend zu verhalten. Der Weg? Schuldgefühle.

Wie Kinder Schuldgefühle auslösen können

Das elterliche Schuldspiel ist umkehrbar. Das Schuldgefühleeinflößen funktioniert in beiden Richtungen, und Kinder handhaben es genauso geschickt, um ihre Eltern zu manipulieren, wie umgekehrt.

Sowie ein Kind bemerkt, daß die Eltern es nicht unglücklich sehen können und sich selbst vorwerfen, schlechte Eltern zu sein, wird es häufig versuchen, sich dieses Schuldgefühl zunutze zu machen. Ein Wutanfall im Supermarkt kann die ersehnten Bonbons einbringen. «Ninas Vater erlaubt ihr das aber!» Also ist Ninas Vater ein guter Vater und Sie nicht. «Du liebst mich gar nicht, sonst würdest du mich nicht so behandeln!» Und als äußerstes: «Ich muß ein Adoptivkind sein. Meine richtigen Eltern würden mich doch nicht so behandeln.» Aus diesen Äußerungen spricht immer das gleiche: Du als meine Mutter (oder Vater) solltest dich schuldig fühlen, weil du mich, dein Kind, so behandelst.

Natürlich richten sich die Kinder damit nur nach dem Beispiel der Eltern. Sie beobachten, daß die Erwachsenen in ihrer Welt schulderzeugende Verhaltensweisen einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Sich schuldig fühlen ist keine natürliche Verhaltensweise, sondern eine erlernte Gefühlsreaktion. Sie funktioniert nur dann, wenn das Opfer dem Manipulator gegenüber erkennen läßt, daß es verwundbar ist. Kinder spüren, wo Sie verwundbar sind. Wenn sie Sie unaufhörlich an zurückliegende Handlungen oder Unterlassungen erinnern, um zu erreichen, was sie wollen – dann haben sie den Trick mit den Schuldgefühlen begriffen. Wenden Ihre Kinder diese Taktik an, dann müssen sie sie natürlich irgendwo gelernt haben. Höchstwahrscheinlich von Ihnen.

114

Die Schule erzeugt Schuldgefühle

Lehrer sind im Erzeugen von Schuldgefühlen unübertroffen und Kinder dank ihrer leichten Beeinflußbarkeit ausgezeichnete Manipulationsobjekte. Hier folgen einige Schuldsignale, die in jungen Leuten akutelles Unglücklichsein auslösen:

«Deine Mutter wird sehr von dir enttäuscht sein.»
«Über deine Fünf solltest du dich wirklich schämen – so ein intelligenter Junge wie du.»
«Wie hast du das deinen Eltern bloß antun können, nach allem, was sie für dich getan haben? Weißt du denn nicht, wie sehr sie hoffen, daß du den Numerus clausus schaffst?»
«Du hast die Arbeit verhauen, weil du nichts gelernt hast. Das mußt du jetzt mit dir selbst abmachen.»

In der Schule wird häufig mit dem Erzeugen von Schuldgefühlen gearbeitet, um die Kinder zum Lernen bestimmter Stoffe oder Verhaltensweisen zu veranlassen. Vergessen Sie deshalb nicht, daß auch Sie als Erwachsener durch die Schule geprägt sind.

Schuldgefühle, die von der Kirche ausgehen

Religion wird häufig als Mittel verwandt, Schuldgefühle zu erzeugen und dadurch Verhalten zu manipulieren. Hier ist gewöhnlich Gott derjenige, den Sie enttäuscht haben. In manchen Fällen lautet die Botschaft, daß Sie nicht in den Himmel kommen, weil Sie sich gegen bestimmte Gebote versündigt haben.

«Wenn du Gott liebtest, würdest du dich nicht so verhalten.»
«Nur wenn du deine Sünden bereust, kommst du in den Himmel.»
«Du solltest wirklich selber traurig sein, weil du nicht jeden Sonntag zur Kirche gegangen bist, und wenn du reumütig genug bist, wird dir vielleicht vergeben.»
«Du solltest dich schämen, gegen ein Gebot Gottes zu verstoßen.»

115

Durch Institutionen erzeugte Schuldgefühle

Unsere Gefängnisse operieren fast ausnahmslos mit der Theorie von den Schuldgefühlen. Danach braucht man einen Menschen nur lange genug einzusperren, um ihn darüber nachsinnen zu lassen, wie verwerflich er gehandelt hat, dann werden die Schuldgefühle ihn schon bessern. Die Verhängung von Freiheitsstrafen für Delikte, die nicht mit körperlicher Gewalt einhergehen, wie Steuerhinterziehung, Verkehrsdelikte, Zivilvergehen und so weiter, zeugt von dieser Geisteshaltung. Die Tatsache, daß ein auffallend hoher Prozentsatz einmal Inhaftierter rückfällig wird, hat diese Haltung bisher nicht zu erschüttern vermocht.

Sitz in einer Zelle und bereue, was du getan hast! Dieses Vorgehen ist so kostspielig und unnütz, daß es jeder logischen Erklärung spottet. Die unlogische besagt sinnigerweise, daß Schuldgefühle als ein wesentliches Element unserer Kultur eben auch das Rückgrat unseres Strafvollzugs bilden. Anstatt zivile Rechtsbrecher zum Nutzen der Gesellschaft beitragen oder ihre Schulden zurückzahlen zu lassen, sollen sie «gebessert» werden, indem man sie einsperrt und Schuldgefühle erzeugt. Niemandem ist damit geholfen, am allerwenigsten dem Straffälligen selbst.

Gleichgültig wie heftig und zahlreich Schuldgefühle auch sein mögen, vergangenes Verhalten ändern sie nicht. Außerdem waren Gefängnisse noch nie der geeignetste Ort, um neue, gesetzestreue Verhaltensformen zu erlernen. Infolge der Verbitterung der Häftlinge leisten sie viel eher neuen Ungesetzlichkeiten Vorschub. Der Grundsatz, gefährliche Kriminelle einzusperren, um die Umwelt vor ihnen zu schützen, steht auf einem anderen Blatt; davon ist hier nicht die Rede.

Die Sitte, Trinkgeld zu geben, ist in unserer Gesellschaft nicht mehr ein Zeichen für ausgezeichneten Service, sondern spiegelt nur noch die Schuldgefühle derer wider, die sich bedienen lassen. Clevere Kellner und Kellnerinnen, Taxifahrer, Liftboys und andere im Dienstleistungsgewerbe Tätige haben schon längst entdeckt, daß die Mehrzahl der Leute nur schwer mit dem Gefühl, sich nicht korrekt verhalten zu haben, leben kann und ungeachtet der Qualität der geleisteten Dienste immer ein obligatorisches Trinkgeld gibt. Deshalb also die ganzen Versuche, durch dreistes Handaufhalten, unverfrorene Bemerkungen 116und vernichtende Blicke Schuldgefühle hervorzurufen und auf dem Fuße folgend ein dickes Trinkgeld in Empfang zu nehmen.

Vielleicht gehören achtloser Umgang mit Abfällen, Rauchen oder sonstige unzulässige Verhaltensweisen ebenfalls zu den Gelegenheiten, bei denen Sie sich willig Schuldgefühle einjagen lassen. Sie haben vielleicht eine Zigarette oder ein Stückchen Papier fallen lassen … und schon stürzt Sie der strafende Blick eines Fremden in einen Tumult von Gewissensbissen über Ihr bodenloses Benehmen. – Warum entschließen Sie sich nicht kurzerhand, sich nicht mehr so unsozial zu verhalten, anstatt sich mit Selbstanklagen über bereits zurückliegendes Verhalten innerlich zu zerfleischen?

Ein weiterer mit Schuldgefühlen durchsetzter Bereich ist der der Schlankheitskuren. Ein Mensch, der abnehmen will, ißt einen Keks und grämt sich dann für den Rest des Tages darüber, daß er einen Augenblick lang schwach geworden ist. Wenn Sie wohl gerne abnehmen möchten, aber der Versuchung trotzdem nur schwer widerstehen, dann versuchen Sie, aus Ihrem Verhalten Schlüsse zu ziehen und es im gegenwärtigen Augenblick besser zu machen. Mit Schuldgefühlen und Vorwürfen gegen sich selbst verschwenden Sie jedoch nur Ihre Zeit, denn am Ende, wenn Sie sich lange genug damit herumgeschlagen haben, suchen Sie den Ausweg aus Ihrem neurotischen Dilemma doch wie in übermäßigem Essen.

Schuldgefühle wegen Ihres Sexualverhaltens

In unserer Gesellschaft dürfte die Sexualität das Gebiet sein, auf dem Schuldgefühle am üppigsten wuchern. Es war bereits die Rede davon, wie Eltern ihren Kindern wegen sexueller Handlungen und Gedanken Schuldgefühle einflößen. Erwachsene fühlen sich in sexueller Hinsicht jedoch keineswegs freier. Da schleichen sich die Leute auf Zehenspitzen ins Pornokino, damit nur ja keiner erfährt, wie verderbt sie sind. Manche wagen sich nicht einzugestehen, daß sie oralen Sex mögen, ja schon der bloße Gedanke daran läßt ihnen das Gewissen schlagen.

Auch sexuelle Phantasien können zur Schulderzeugung ausgebeutet werden. Viele meinen, sie wären verdorben, weil sie solche Gedanken haben; sogar unter vier Augen oder in der Therapie bestreiten sie ihr 117Vorhandensein. Stände ich vor der Aufgabe, ein Schuldzentrum im Körper zu lokalisieren, dann wäre es mit Sicherheit der Unterleib.

Dies war nur eine knappe Aufzählung der kulturellen Einflüsse, die alle zusammenwirken, um uns Schuldgefühle aufzudrängen. Lassen Sie uns nun den psychischen «Gewinn» der Selbstvorwürfe betrachten. Verlieren Sie dabei nicht aus dem Auge, daß jeder mögliche Ertrag von vornherein selbstschädigend wirkt. Vergessen Sie das nicht, wenn Sie das nächste Mal Schuldgefühlen den Vorrang vor Freiheit geben.

Die psychischen Entschädigungen für die Wahl von Schuldgefühlen

Hier folgen nun einige der wichtigsten Gründe für die Entscheidung, Ihre Gegenwart mit Schuldgefühlen über Dinge zu vergeuden, die Sie in der Vergangenheit getan oder aber unterlassen haben:

Das wären also die «klassischen» Gewinne, die man aus dem Festhalten an Schuldgefühlen ziehen kann. Wie alle anderen die eigene Person regierenden Verhaltensweisen sind auch Schuldgefühle nichts weiter als eine Wahlmöglichkeit, etwas, über das Sie bestimmen können. Falls Sie ihrer überdrüssig sind, sie gern los wären, weil Sie lieber ganz «unschuldig» sein möchten, dann finden Sie hier ein paar geeignete Anfangsstrategien, um Ihr Sündenregister abzubauen.

119

Wie man seine Schuldgefühle loswerden kann

Die Tocher ließ sich in diesem Dialog durch das Aufgebot augenfälliger Schulderzeuger von seiten der Mutter nicht beeindrucken. Sie war in Wirklichkeit schon fast eine Leibeigene gewesen, da alle ihre Versuche, sich von der Mutter zu lösen, ausnahmslos mit vorwurfsvollen Reden beantwortet wurden. Mama war fest entschlossen, ihre Tochter abhängig und unter Kontrolle zu halten, so daß der Tochter nur die Wahl blieb, entweder neue Verhaltensweisen zu erlernen oder ihr ganzes Leben unter der Fuchtel ihrer Mutter und der eigenen Schuldgefühle zu verbringen. Achten Sie besonders auf die Entgegnungen der Tochter. Sie beginnen alle mit dem Hinweis, daß die Mutter ihre Gefühle selbst zu verantworten hat. Durch das «Du meinst» an Stelle von «Ich meine» wird das Schuldpotential in taktvoller Weise auf ein Mindestmaß herabgesetzt.

So also wirken Schuldgefühle in unserer Kultur – als handliches Manipulationsinstrument und unnütze Zeitverschwendung. Sorgen – die andere Seite der Medaille – sind in diagnostischer Hinsicht mit Schuldgefühlen identisch, zielen aber ausschließlich auf die Zukunft und auf all die furchtbaren Dinge, die ja vielleicht mal irgendwann geschehen könnten.

123

Sorgen ändern nichts

Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, absolut keinen. Verbringen Sie Ihr ganzes weiteres Leben von diesem Augenblick an nur mit Sorgen – und Sie werden sehen, daß all Ihr Bangen nicht das geringste ändert. Sorge, Sie erinnern sich, ist definiert als ein gegenwärtiger Zustand des Gelähmtseins infolge von Dingen, die in der Zukunft geschehen – oder auch nicht geschehen werden. Sie müssen sich davor hüten, Sorgen und das Vorausplanen der Zukunft durcheinanderzubringen. Angenommen, Sie planen für später, und dieses Planen in der Gegenwart hilft Ihnen, später ein erfüllteres Leben zu führen, dann hat das mit Sorgen nichts zu schaffen. Sorgen machen Sie sich dann, wenn Sie sich im Jetzt auf irgendeine Weise durch ein zukünftiges Ereignis lähmen lassen.

So wie unsere Gesellschaft Schuldgefühle fördert, leistet sie auch den Sorgen Vorschub. Auch hier steht wieder die Gleichsetzung von Sorgen und Gernhaben am Anfang. Falls Sie einen Menschen gern haben, so lautet die Mär, müssen Sie sich selbstverständlich auch um ihn sorgen. Deshalb also kommen Ihnen immer wieder Aussprüche zu Ohren wie: «Sicherlich mache ich mir Sorgen, wenn man jemand gern hat, ist das doch nur natürlich», oder: «Ich kann nichts für meine Ängste, die hab ich doch bloß, weil ich dich liebe.» Und deshalb stellen Sie also Ihre Liebe dadurch unter Beweis, daß Sie sich zur richtigen Zeit in ausreichendem Maß Sorgen machen.

Sorgen sind tief in unserer Kultur verwurzelt. So gut wie jeder verbringt einen unverhältnismäßig hohen Anteil seiner Zeit mit Sorgen um die Zukunft. Dabei ist das alles für die Katz. Soviel Sorgen Sie sich auch machen, die Dinge werden nicht besser dadurch. In der Tat ist es wohl eher so, daß Sorgen Sie daran hindern, wirkungsvoller mit der Gegenwart umzugehen. Außerdem haben Sorgen nichts mit Liebe zu tun. Liebe macht eine Beziehung, in der jeder das Recht hat, zu sein, was er sein möchte, ohne daß einer dem anderen notwendige Bedingungen stellt.

Stellen Sie sich vor, Sie lebten im Jahre 1860, zu Beginn des amerikanischen Bürgerkrieges. Das Land rüstet zum Krieg. Es gibt damals etwa 32 Millionen Menschen in den USA. Von diesen 32 Millionen zerbricht sich nun jeder einzelne den Kopf über Hunderte von Dingen; 124jeder füllt viele gegebene Augenblicke mit quälenden Zukunftsbildern. Man sorgt sich wegen des Kriegs, wegen der Lebensmittelpreise, der Dürre und der Wirtschaftslage – wegen all der Dinge, die uns auch heute noch beunruhigen. 1977, nach 117 Jahren, als alle diese Angsthasen schon längst tot sind, zeigt sich, daß ihr vereintes Zittern und Zagen den Lauf dessen, was heute bereits Geschichte geworden ist, keinen Augenblick verändert hat. Gleiches gilt für Ihre Sorgen und Ihre Zeit. Wird Ihnen der ganze Sorgenberg, den Sie sich gemacht haben, irgend etwas genützt haben, wenn die Erde wieder von einer ganz neuen Mannschaft bevölkert ist? Nein. Verändern Ihre Sorgen die Dinge, über die Sie beunruhigt sind? Die Antwort ist wieder nein. Dann handelt es sich also hier um einen Problembereich, den Sie in den Griff bekommen müssen, um nicht Ihre kostbare Zeit mit einem Verhalten zu verschwenden, das absolut keinen positiven Ertrag bringt.

Ein Großteil Ihrer Sorgen richtet sich auf Objekte, die außerhalb Ihrer Reichweite liegen. Ängstigen Sie sich über einen Krieg, die Wirtschaft oder mögliche Krankheit, soviel Sie wollen; Friede, Wohlstand oder Gesundheit werden dadurch freilich nicht näherrücken. Als einzelner haben Sie auf keines dieser Dinge viel Einfluß. Darüber hinaus entpuppt sich die große Katastrophe, die Ihnen solche Angst einjagt, nicht selten in Wirklichkeit als weniger schrecklich, als Sie sie sich ausgemalt hatten.

Ich habe mehrere Monate lang mit dem siebenundvierzigjährigen Harald gearbeitet. Er quälte sich mit der Angstvorstellung herum, er könnte seine Arbeit verlieren und nicht mehr in der Lage sein, seine Familie zu ernähren. Harald war ein zwanghafter Angsthase. Er fing an, abzunehmen, konnte nicht mehr schlafen und litt häufig unter Übelkeit. In der Beratung sprachen wir von der Vergeblichkeit der Sorgen und davon, daß Harald sich dafür entscheiden könnte, zufrieden zu sein. Aber als Angsthase vom echten Schrot und Korn hielt er es für seine Pflicht, sich täglich neu vor der möglichen heraufziehenden Katastrophe zu ängstigen. Nach Monaten schließlich hielt er sein Entlassungsschreiben in der Hand. Harald war zum erstenmal in seinem Leben arbeitslos. Binnen dreier Tage hatte er eine neue Stelle, die nicht nur besser bezahlt war als die vorige, sondern ihm noch dazu viel mehr Befriedigung verschaffte. Er hatte seine Zwanghaftigkeit eingesetzt, um die neue Stelle zu finden. Seine Suche war kurz und 125erbarmungslos gewesen. Haralds Sorgen aber hatten sich alle als umsonst erwiesen. Weder hatte seine Familie Hunger gelitten, noch war er selbst zusammengebrochen. Hier wie bei den meisten düsteren Bildern unserer Zwangsvorstellungen brachte die eintretende Möglichkeit nicht den gefürchteten Schrecken, sondern einen Gewinn. Harald hat damit die Vergeblichkeit der Sorge am eigenen Leibe erfahren, und er hat jetzt wirklich damit begonnen, eine sorglosere Haltung einzunehmen.

Ralph Schoenstein spöttelt in seinem geistreichen Essay mit dem Titel «Wo steckt der Pferdefuß?» in der Zeitschrift The New Yorker über die Sorgengenies:

«Was für eine Reihe! Da steht Altes neben Neuem, Kosmisches neben Trivialem, denn der kreative Angsthase muß in einem fort das Prosaische mit dem Undenklichen verbinden. Wird die Metropolitan Opera noch ihr ganzes Programm am Abend spielen können, wenn die Sonne explodiert? Müssen sich in Kälteschlaf versetzte menschliche Wesen erneut als Wähler registrieren lassen, falls sie jemals wiederbelebt werden sollten? Wenn man den Footballprofis den kleinen Zeh amputiert, ob sie dann wohl weniger Punkte für ihren Verein machen?»

Vielleicht gehören Sie zu der Profiklasse der Angsthasen, deren Mitglieder sich grundlos Stress und Angstsituationen schaffen, indem sie sich wieder dazu entscheiden, sich über jede denkbare Kleinigkeit aufzuregen. Oder vielleicht sind Sie ein Angsthase aus der Regionalliga, der sich nur um seine persönlichen Probleme kümmert. Die folgende Aufstellung enthält die gebräuchlichsten Antworten auf die Frage: «Was macht dir Sorgen?»

Der «Sorgenerhebungsbogen»

Die folgenden Daten sammelte ich eines Abends bei einem Vortrag vor etwa 200 Erwachsenen. Ich nenne sie Ihren «Sorgenerhebungsbogen». Entsprechend der schon erwähnten «Schuldpunkte» können Sie sich hier «Sorgenpunkte» geben. Die Reihe ist nicht nach Häufigkeit oder Schwere geordnet. Die Erklärungen in Klammern enthalten die Sätze, mit denen die Sorgen begründet werden.

126

Ihr Sorgenerhebungsbogen
Ich mache mir Sorgen …

  1. Um meine Kinder. («Jeder sorgt sich doch um seine Kinder, ich wäre keine gute Mutter oder kein guter Vater, wenn ich das nicht täte, oder ist das nicht so?»)
  2. Um meine Gesundheit. («Wenn man nicht auf seine Gesundheit achtgibt, kann man ja jeden Augenblick sterben!»)
  3. Um das Sterben. («Keiner stirbt gern. Jeder hat Angst vor dem Tod.»)
  4. Um meine Arbeit. («Wenn du deine Arbeit nicht ernst nimmst, schmeißt man dich womöglich raus.»)
  5. Um die Wirtschaftslage. («Jemand muß sich doch darum kümmern, der Regierung ist ja anscheinend alles Wurscht.»)
  6. Wegen einem Herzanfall. («Das hat jeder mal, nicht wahr?» – «Das Herz kann jederzeit aussetzen!»)
  7. Um meine Sicherheit. («Wenn man nicht um seine Sicherheit besorgt ist, ist man mir nichts, dir nichts im Armenhaus oder ein Wohlfahrtsempfänger.»)
  8. Um das Glück meiner Frau/meines Mannes. («Ich mache mir weiß Gott eine Menge Sorgen um ihr/sein Wohlbefinden, und trotzdem wird das überhaupt nie gewürdigt.»)
  9. Ob ich auch das Richtige tue. («Ich frage mich immer, ob ich auch alles richtig mache, auf die Art kann ich sicher sein, daß alles in Ordnung ist.»)
  10. Ob mein Kind gesund sein wird (eine Schwangere). («Jede werdende Mutter macht sich darum Sorgen.»)
  11. Um die Preise. («Jemand muß sich doch darüber aufregen, damit sie nicht raketenartig in die Höhe schießen!»)
  12. Um Unfälle. («Ich habe immer Angst, daß meinem Ehepartner oder den Kindern ein Unfall passiert. Das ist nur natürlich, oder etwa nicht?»)
  13. Um das, was die anderen denken. («Ich hab Angst, daß meine Freunde mich nicht mögen.»)
  14. Um mein Gewicht. («Keiner ist gern dick, deswegen quält mich auch der Gedanke, ich könnte wieder zunehmen, was ich mir mühsam abgehungert habe.»)
  15. Ums Geld. («Es reicht bei uns nie so richtig, und ich mach mir 127Sorgen, daß wir eines Tages blank sind und zur Wohlfahrt gehen müssen.»)
  16. Daß mein Wagen stehenbleibt. («Es ist schon eine alte Kiste, und ich will damit über die Autobahn fahren, deswegen ahb ich natürlich ein bißchen Angst, es kann ja was passieren.»)
  17. Um meine Rechnungen. («Jeder ist bange, ob er auch seine Rechnungen bezahlen kann. Das wäre doch unmenschlich, sich um seine Rechnungen keine Sorgen zu machen.»)
  18. Den Tod meiner Eltern. («Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn sie sterben, das macht mich ganz krank. Ich hab Angst vor dem Alleinsein, ich glaube nicht, daß ich damit zu Rande käme.»)
  19. Ob ich in den Himmel komme und was wäre, wenn es keinen Gott gibt. («Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß da gar nichts ist.»)
  20. Um das Wetter. («Ich hab vielleicht ein Picknick geplant und dann regnet es ausgerechnet. Wenn ich nur wüßte, ob wir auch Schnee haben werden zum Skilaufen!»)
  21. Um das Altwerden. («Keiner wird gern älter, und ich laß mir nicht erzählen, daß nicht jeder Angst davor hat!» – «Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn ich einmal nicht mehr arbeite. Davor graut mir wirklich.»)
  22. Um das Fliegen. («Man hört doch dauernd was über Flugzeugunglücke.»)
  23. Um die Jungfräulichkeit meiner Tochter. («Wenn ein Vater seine Tochter lieb hat, quält er sich auch mit dem Gedanken, daß sie vielleicht verletzt wird oder in Schwierigkeiten kommt.»)
  24. Wenn ich vor einer Gruppe sprechen muß. («Vor einer Menschenmenge erstarre ich zu Stein, und jedesmal hab ich vorher wieder die gleiche wahnsinnige Angst.»)
  25. Wenn mein Ehegatte nicht anruft. («Das ist doch wohl normal, sich zu ängstigen, wenn man nicht weiß, wo ein geliebter Mensch sich aufhält und ob ihm vielleicht was passiert ist!»)
  26. Wenn ich in die Großstadt fahre. («Was kann in dem Dschungel da nicht alles passieren! Ich bin jedesmal ganz fertig, wenn ich hinfahre.» – «Ich hab immer Angst, daß ich keinen Parkplatz finde.»)
    Und vielleicht der neurotischste Punkt von allen …
  27. Daß ich einmal gar keine Sorgen haben könnte. («Ich kann es 128einfach nicht aushalten, wenn alles in Ordnung ist, ich werde dann ganz kribbelig, weil ich nicht weiß, was als Nächstes passiert!»)

Das also ist der kollektive Sorgenerhebungsbogen der Menschen in unserer Kultur. Sie können nun «Sorgenpunkte» an alle Aussagen verteilen, die am genauesten auf Sie zutreffen, und Ihr Endergebnis ausrechnen – aber ganz gleichgültig, wie hoch Ihre Punktzahl wird, heraus kommt am Ende doch immer Null.

Bevor wir unsere Sorgen aus der Welt schaffen, müssen wir zuerst das dahinterstehende «Warum» verstehen. Wenn Sorgen in Ihrem Leben eine große Rolle spielen, dann können Sie davon ausgehen, daß sie viele historische Wurzeln haben. Was aber sind die Gewinne? Sie ähneln dem neurotischen Nutzen, den Sie aus Schuldgefühlen ziehen, da beide, Sorgen wie Schuldgefühle, selbstnegierende Verhaltensweisen sind, die sich nur in zeitlicher Hinsicht unterscheiden. Schuldgefühle sind auf die Vergangenheit gerichtet, Sorgen auf die Zukunft.

Der seelische «Gewinn» bei der Wahl von Sorgen

Sorgen sind eine Aktivität des gegenwärtigen Augenblicks. Wenn Sie also Ihr gegenwärtiges Leben darauf verwenden, sich durch den Blick auf Zukünftiges zu lähmen, dann können Sie damit dem Jetzt und allem, was Ihnen daran bedrohlich erscheint, entrinnen. Zum Beispiel habe ich den Sommer 1974 in Karamürsel in der Türkei verbracht, wo ich lehrte und ein Buch über therapeutische Beratung schrieb. Meine siebenjährige Tochter war mit ihrer Mutter in den Vereinigten Staaten geblieben. Obwohl mir das Schreiben Spaß macht, erscheint es mir andererseits doch als ungeheuer einsame, schwierige Plackerei, die ein hohes Maß an Selbstdisziplin erfordert. So saß ich denn öfter vor meiner Schreibmaschine, Papier eingespannt und Randsteller gesetzt, und mit einemmal waren meine Gedanken zu Hause bei der kleinen Tracy Lynn. Was, wenn sie mit ihrem Rad auf der Straße fährt und nicht aufpaßt? Ich hoffe nur, daß jemand im Schwimmbad nach ihr sieht, denn sie hat eine Neigung zur Achtlosigkeit. Eh ich michs versah, war eine Stunde verstrichen, und ich hatte sie mit weiter nichts als mit Bangen zugebracht. Natürlich war das alles vergeblich. Oder etwa 129nicht? Solange ich mein Jetzt und Hier mit Sorgen ausfüllte, brauchte ich nicht mit der Schwierigkeit des Schreibens zu ringen. In der Tat eine erstklassige Entschädigung.

Nachdem Sie Einblick in die Ihre Sorgen abstützenden psychischen Mechanismen gewonnen haben, können Sie nun anfangen, strategische Maßnahmen zur Beseitigung der lästigen Sorgenviren, von denen diese seelische Problemzone verseucht ist, zu ergreifen.

Wie man seine Sorgen loswerden kann

Fangen Sie an, Ihr Jetzt und Hier als die Zeit für ein intensives Leben zu sehen, nicht zur unverwandten Beschäftigung mit der Zukunft. Fragen Sie sich, wenn Sie sich das nächste Mal beim Herumwühlen in Ihren Sorgen ertappen: «Welchen Dingen weiche ich jetzt eigentlich aus, indem ich diesen Augenblick mit meinen Sorgen ausfülle?» Beginnen Sie dann, die Sache in Angriff zu nehmen, der Sie zuvor ausgewichen waren. Das beste Mittel gegen Sorgen ist Aktivität. Ein Klient von mir, der früher sehr leicht verzagt war, berichtete mir, wie er erst kürzlich einen Triumph über die Sorgen errungen hatte. In einem Ferienort ging er eines Nachmittags in die Sauna. Dort traf er einen Mann, der seine Sorgen keinen Augenblick loslassen konnte. Dieser Mann nun hielt ihm einen ausführlichen Vortrag über all die Dinge, über die mein Klient sich eigentlich Sorgen machen müßte. Er erwähnte die Börse, meinte aber, es bestünde kein Grund zur Beunruhigung wegen kurzfristiger Verschiebungen. In sechs Monaten jedoch käme ein wahrer schwarzer Freitag, um den gälte es wirklich besorgt zu sein. Mein Klient hörte sich an, welche Dinge ihm pflichtgemäß Kopfzerbrechen bereiten müßten und ging dann weg. Nachdem er eine Stunde lang Tennis gespielt und danach begeistert beim Fußballspiel von ein paar Jungen mitgemacht hatte, nahm er mit seiner Frau zusammen an einem Tischtennisturnier teil, das beiden großen Spaß machte, worauf er nach etwa drei Stunden wieder in die Sauna zurückkehrte, um zu duschen. Sein neuer Freund saß noch immer dort und ängstigte sich und setzte sogleich seine Aufzählung der Dinge fort, die ihm Sorgen machten. 131Mein Klient hatte die zurückliegende Stunde voller Aktivität und Fröhlichkeit verbracht, während der andere sich weiterhin in Sorgen verzehrte. Und das Verhalten keines der beiden Männer hatte irgendeinen Einfluß auf das Geschehen an der Börse.

Das waren einige der möglichen Techniken, um die Sorgen in Ihrem Leben auszuradieren. Die wirksamste Waffe, die Ihnen dazu zur Verfügung steht, ist jedoch immer noch Ihre Entschlossenheit, dieses neurotische Verhalten aus Ihrem Leben zu verbannen.

Der Schlüssel zum Verständnis Ihres Schuld- und Sorgenverhaltens liegt im gegenwärtigen Augenblick. Lernen Sie, jetzt zu leben und sich die Gegenwart nicht mit lähmenden Gedanken über Vergangenheit und Zukunft zu vergällen. Es gibt keinen anderen Augenblick, in dem wir leben könnten, außer dem jetzigen; und in diesem flüchtigen Jetzt 133spielen sich auch alle unsere Schuldgefühle und Sorgen ab.

In «Alice hinter den Spiegeln» spricht Lewis Carroll über das Leben in der Gegenwart: «Die Vorschrift sagt, morgen Marmelade und gestern Marmelade … aber nie heute Marmelade.» – «Eines Tages muß es aber zu ‹heute: Marmelade› kommen», wandte Alice ein.

Und Sie? Ein wenig Marmelade, gleich heute? Da es einmal soweit kommen muß, wie wärs denn mit jetzt gleich?

134

VI.
Die Lust am Unbekannten

Nur die Unsicheren streben nach Sicherheit.

Sind Sie vielleicht ein Sicherheitsexperte – ein Mensch, der allem Unbekannten geflissentlich aus dem Weg geht, weil er stets genau wissen muß, worauf er sich zubewegt und was ihn erwartet? Durch die frühkindliche Erziehung in unserer Gesellschaft werden wir viel eher zu Vorsicht als zu Neugier, zu Sicherheit als zum Abenteuer angehalten. Meide das Unbekannte; halt dich an das, was dir vertraut ist; wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um! Aus diesen frühen Einflüssen werden mit der Zeit leicht seelische Schranken, die Ihnen persönliche Erfüllung und das Glück im gegenwärtigen Augenblick auf vielerlei Weise verwehren.

Albert Einstein, der sein ganzes Leben der Erforschung des Unbekannten gewidmet hat, schrieb in einem Artikel «Woran ich glaube» (Forum, Oktober 1930):

«Das schönste Erlebnis, was es gibt, ist das des Geheimnisvollen. Darin liegt die wahre Quelle aller Kunst und Wissenschaft.»

Genausogut hätte er es auch die Quelle allen Wachstums und aller Lebensfreude nennen können.

Allzu viele setzen das Unbekannte jedoch mit Gefahr gleich. Sie sehen den Sinn des Lebens darin, mit Gewißheiten umzugehen und immer ganz genau zu wissen, wohin die Reise geht. Nur die Tollkühnen wagen sich in die verschwommeneren Bereiche des Lebens vor, und sie stehen denn auch prompt überrumpelt, angeschlagen und am allerschlimmsten: unvorbereitet da. Als kleiner Pfadfinder wurde Ihnen gesagt: Allzeit bereit. Wie aber hält man sich bereit für das Unbekannte? Offensichtlich kann man das nicht. Machen Sie deshalb lieber 135einen Bogen um alles Unbekannte, dann sind Sie am Ende nie der Dummen. Gehen Sie auf Nummer Sicher, lassen Sie sich auf keine Risiken ein, folgen Sie dem vorgezeichneten Plan – selbst wenn das der reine Stumpfsinn ist.

Vielleicht werden Sie doch der Sicherheit allmählich müde, von jedem Tag schon im voraus zu wissen, wie er ablaufen wird. Sie können nicht mehr wachsen, wenn Sie die Antworten schon kennen, bevor überhaupt die Fragen gestellt sind. Sie werden sich wahrscheinlich am deutlichsten an die Zeiten erinnern, wo Sie zu spontanen Äußerungen und Handlungen fähig waren, immer im köstlichen Vorgefühl des Geheimnisvollen.

Unser ganzes Leben hindurch ermahnt uns die Gesellschaft zur Sicherheit. Das begann in der Familie und wurde später von anderen Erziehern noch verstärkt. Das Kind lernt, Experimente zu unterlassen und das Unbekannte zu meiden. Verirr dich nicht. Habe die richtigen Antworten parat. Halte dich an deinesgleichen. Falls Sie diese ängstlichen Ermahnungen zur Sicherheit immer noch verinnerlicht haben, wird es jetzt Zeit, sich davon loszumachen. Befreien Sie sich von dem Gedanken, Sie dürften neues, spontanes Verhalten nicht zeigen. Natürlich können Sie das; Sie müssen sich nur dazu entschließen. Fragen Sie sich, warum Sie automatisch vor allem Unbekannten zurückzucken und sich weigern, neue Erfahrungen zu machen.

Sich für neue Erfahrungen öffnen

Wenn Sie unverbrüchlich an sich glauben, liegt keinerlei Aktivität außerhalb Ihrer Möglichkeiten. Die volle Spannweite menschlichen Erlebens steht Ihnen offen, sobald Sie sich dazu aufraffen, mutig auf Gebiete vorzudringen, wo es keine Garantien mehr gibt. Denken sie einmal an die Menschen, die als Genies gelten und die in ihrem Leben Außergewöhnliches erreicht haben. Das sind keine Leute, die sich nur auf eine einzige Sache verstanden hätten, keine, die dem Unbekannten aus dem Weg gegangen wären. Benjamin Franklin, Ludwig van Beethoven, Leonardo da Vinci, Jesus Christus, Albert Einstein, Galileo Galilei, Bertrand Russell, George Bernard Shaw, Winston Churchill und viele gleich ihnen waren Pioniere, Abenteurer in fremden, unsicheren 136Bereichen. Das waren Menschen wie Sie, allein dadurch ausgezeichnet, daß sie den Willen aufbrachten, Gebiete zu durchqueren, auf die andere keinen Fuß zu setzen wagten. Albert Schweitzer, auch ein Universalgenie, hat einmal gesagt: «Nichts Menschliches ist mir fremd.» Sie können sich selbst mit anderen Augen ansehen und sich für Erfahrungen öffnen, die Sie bislang noch nicht einmal als Teil Ihres menschlichen Potentials begriffen haben – oder aber weiterhin immer das gleiche auf die gleiche Art tun, bis Sie unter der Erde liegen. Es ist in der Tat so, daß große Menschen nie an andere erinnern und daß ihre Größe gerade am Merkmal der Entdeckerfreude abzulesen ist und an der Kühnheit, mit der sie das Unbekannte erforschten.

Sich für neue Erfahrungen öffnen, bedeutet die Aufgabe der Ansicht, es sei besser, etwas Bekanntes lieber hinzunehmen, als sich um seine Veränderung zu bemühen, weil Veränderung immer mit Ungewißheiten einhergeht. Vielleicht haben Sie sich auf den Standpunkt gestellt, daß das Selbst (Sie) zerbrechlich und leicht zu zerschmettern sei, wenn Sie in Bezirke eindringen würden, wo Sie noch niemals gewesen sind. Das ist eine Legende. Sie sind so stark wie ein Fels. Sie werden weder hilflos sein noch auseinanderbrechen, wenn Sie vor etwas Neuem stehen. In der Tat haben Sie viel größere Chancen, den seelischen Zusammenbruch zu vermeiden, wenn Sie die Routine und Gleichförmigkeit Ihres Lebens etwas verringern. Langeweile wirkt schwächend und beeinträchtigend auf die Psyche. Haben Sie einmal das Interesse am Leben verloren, dann sind Sie auch potentiell zerstörbar. Wenn Sie jedoch Ihr Leben mit ein wenig reizvoller Ungewißheit würzen, brauchen Sie bestimmt nicht zu jenem ominösen Nervenzusammenbruch Zuflucht zu nehmen.

Sie mögen gut und gern auch die «Wenn es ungewöhnlich ist, muß ich aber die Finger davon lassen»-Mentalität übernommen haben. Sie bringt Sie dazu, nur neugierig den Kopf zu wenden, wenn Sie etwa Taubstumme sehen, die sich durch Zeichensprache miteinander verständigen, aber nicht dazu zu versuchen, sich mit ihnen zu verständigen. Oder wenn Sie Leute treffen, die eine fremde Sprache sprechen, gehen Sie wahrscheinlich einfach schnell beiseite und weichen vor dem weiten, unbekannten Feld zurück, sich in einer anderen als Ihrer eigenen Sprache zu verständigen, anstatt es auf einen Versuch ankommen zu lassen, sich irgendwie verständlich zu machen. Es gibt zahllose 137Betätigungen und Menschen, die allein deshalb als tabu gelten, weil keiner sie richtig kennt. Auf diese Weise geraten etwa Homosexuelle, Transvestiten, Behinderte, Zurückgebliebene, Nudisten und andere mehr in den Geruch des Abseitigen. Man weiß nicht so recht, wie man sich ihnen gegenüber verhalten soll und geht der ganzen Sache deswegen gleich ganz aus dem Weg.

Vielleicht leben Sie auch im Glauben, daß Sie niemals etwas ohne Grund tun sollten, wozu sollte es denn sonst auch gut sein? Sie können alles tun, was Sie nur wollen, einfach deswegen, weil Sie es wollen. Das ist Grund genug. Sie brauchen für nichts, was Sie tun, einen Grund. Für alles eine besondere Begründung haben müssen ist eine Maxime genau der Denkungsart, die Sie versucht daran zu hindern, neue aufregende Erlebnisse zu machen. Als Kind konnten Sie ohne weiteres eine Stunde lang mit einem Grashüpfer spielen, nur weil es Ihnen Spaß machte. Oder Sie stiegen auf einen Berg oder gingen auf Entdeckungsreise im Wald. Warum? Weil Sie dazu Lust hatten. Aber als Erwachsener meinen Sie, für alles einen hieb- und stichfesten Grund vorweisen zu müssen. Diese Leidenschaft für Begründungen verbaut Ihnen den Weg zu größerer Offenheit und weiterem Wachstum. Wie befreiend zu wissen, daß Sie niemals mehr etwas, was Sie tun, vor irgend jemandem zu rechtfertigen brauchen, nicht einmal vor sich selbst!

Ralph Waldo Emerson hielt am 11. April 1834 in seinem Tagebuch fest:

«Vier Schlangen, in einer Höhlung hinauf- und hinabgleitend, ohne daß ich einen Grund dafür erkennen könnte. Nicht, um zu fressen. Nicht aus Liebe … Einfach nur gleitend.»

Sie können alles tun, was Sie wollen, weil Sie es wollen, und aus keinem anderen Grund. Diese Einstellung wird Ihnen neue Erlebnisperspektiven eröffnen und dazu beitragen, Ihnen die Angst vor dem Unbekannten zu nehmen, die Sie vielleicht zu Ihrem Lebensgrundsatz gemacht hatten.

Starrheit kontra Spontaneität

Überprüfen Sie, wie es mit Ihrer Spontaneität aussieht. Können Sie sich neuen Erfahrungen öffnen, oder klammern Sie sich starr an Ihr eingefahrenes Verhalten? Spontan sein heißt, jederzeit der Eingebung des 138Augenblicks folgend alles ausprobieren können, einfach weil es Ihnen vielleicht Spaß machen wird. Auch wenn Sie feststellen, daß Sie das, was Sie tun, nicht genießen können, haben Sie doch an dem Versuch Ihre Freude gehabt. Man wird Sie zwar leicht als unverantwortlich und leichtsinnig abstempeln, aber was liegt schon am Urteil der anderen, wenn es für Sie wundervoll war, Neuland zu betreten?

Es gibt nicht wenige in hoher Stellung, die sich schwertun mit der Spontaneität. Sie leben ihr Leben in eingefahrenen Bahnen und kümmern sich nicht darum, welchem Widersinn sie blindlings folgen. In den Parteien unterstützt man die Erklärungen der Spitzenfunktionäre und wählt entsprechend der Parteiräson. Kabinettsmitglieder, die spontan und offen reden, sind oft genug Kabinettsmitglieder gewesen. Unabhängigkeit des Denkens wird unterdrückt, und offizielle Richtlinien schreiben vor, wie gedacht und geredet werden sollte. Jasager können nicht spontan sein. Das Unbekannte flößt ihnen panische Angst ein. Sie passen sich an. Sie tun, was ihnen gesagt wird. Niemals stellen sie in Frage, was von ihnen erwartet wird, sondern geben sich beflissen Mühe, diese Erwartungen zu erfüllen. Welches ist Ihre Position in diesem Bereich? Schaffen Sie es, hier ganz Sie selbst zu sein? Können Sie spontan Wege einschlagen, die nicht unbedingt zu einem sicheren Ausgang führen?

Die Starren wachsen nicht mehr. Am liebsten machen sie alles so, wie sie es schon immer gemacht haben. Einer meiner Kollegen, der in der Lehrerfortbildung arbeitet, fragt die Langgedienten gern, die dreißig und mehr Jahre im Klassenzimmer zugebracht haben: «Haben Sie tatsächlich dreißig Jahre unterrichtet, oder nur ein einziges Jahr, dreißigmal?» Und haben Sie, lieber Leser, wirklich zehntausend Tage oder mehr gelebt oder nur einen einzigen Tag zehntausend- (oder mehr)-mal? – Eine gute Frage, die Sie sich bei allen Versuchen, in Ihrem Leben mehr Spontaneität zu erreichen, selbst vorlegen sollten.

Starrheit liegt allem Vorurteil zugrunde, und Vorurteil heißt nichts andere als «im voraus urteilen». Vorurteile wachsen weniger aus Haß oder auch nur Abneigung gegen bestimmte Leute, Ideen oder Aktivitäten, als aus der Tatsache, daß es Schwierigkeiten und Ungewißheiten erspart, bei dem zu bleiben, was man kennt. Also bei den Leuten, die so sind wie Sie. Ihre Vorurteile scheinen auch ihren Zweck zu erfüllen. Sie halten Sie von Menschen, Dingen und Ideen fern, die unbekannt und 139möglicherweise unbequem sein könnten. In Wirklichkeit arbeiten Ihre Vorurteile jedoch gegen Sie, weil sie Sie daran hindern, Neuland zu betreten. Um spontan sein zu können, müssen Sie Ihre Vorurteile abbauen und sich das Zusammentreffen und den Umgang mit neuen Menschen und Ideen nicht länger verbieten. Die Vorurteile ihrerseits wirken als Sicherheitsventile, um dunklen oder verwirrenden Gefilden ausweichen und inneres Wachstum abblocken zu können. Wenn Sie niemandem trauen, können Sie auch nichts «in den Griff bekommen»; das heißt im Grunde, daß Sie sich selbst auf fremdem Gelände nicht trauen.

Die «Handle stets nach Plan»-Falle

So etwas wie planvolle Spontaneität gibt es nicht. Sie wäre ein Widerspruch in sich. Wir alle kennen Leute, die mit einer Landkarte und einem Merkzettel in der Hand durchs Leben gehen, unfähig, von ihrem ursprünglichen Plan auch nur um ein Jota abzuweichen. Es ist nicht notwendigerweise schon krankhaft, nach Plan vorzugehen, aber seinen Plan in den Himmel zu heben, darin liegt die wirkliche Neurose. Vielleicht haben Sie in einem Lebensplan festgelegt, was Sie im Alter von 25, 30, 40, 50, 70 … Jahren tun wollen, so daß Sie nur noch in Ihrem Terminkalender nachzusehen brauchen, an welchem Punkt Sie jetzt plangemäß gerade stehen müßten – anstatt sich jeden Tag neu zu entscheiden und so viel Glauben an sich selbst aufzubringen, daß der Plan auch geändert werden könnte. Lassen Sie sich Ihren eigenen Plan nicht über den Kopf wachsen!

Als Heinrich als Klient zu mir kam, war er Mitte der Zwanziger. Er litt schwer unter der «Handle nach Plan»-Neurose, was zur Folge hatte, daß er sich in seinem Leben viele aufregende Gelegenheiten entgehen ließ. Als Zweiundzwanzigjähriger hatte er eine Stelle in einem anderen Bundesstaat angeboten bekommen. Der mögliche Umzug ließ ihn damals vor Schreck erstarren. Würde er denn in Georgia überhaupt zurechtkommen? Wo sollte er wohnen? Was geschähe mit seinen Eltern und Freunden? Die Angst vor dem Unbekannten saß Heinrich so lähmend in allen Gliedern, daß er lieber blieb, wo er war und zurückwies, was sich als Chance, vorwärtszukommen, anregende 140neue Arbeit zu übernehmen und in eine funkelnagelneue Umgebung zu ziehen, hätte erweisen können. Dieses Erlebnis brachte Heinrich in die Beratung. Er spürte wohl, daß sein starres Festhalten am vorgefaßten Plan ihn in seiner Entfaltung behinderte, hatte aber gleichwohl Angst davor, auszubrechen und etwas Neues zu probieren.

Im Lauf einer Explorationssitzung kam ans Tageslicht, daß Heinrich wahrhaftig ein Planfanatiker war. Er aß Tag für Tag das gleiche Frühstück, plante seine Kleidung schon Tage im voraus und hatte in seinen Kommodenschubladen alle Gegenstände bis ins kleinste nach Farbe und Größe geordnet. Auch seine Familie hatte sich seinem Organisationszwang zu fügen. Heinrich erwartete von seinen Kindern, daß sie ihre Sachen stets ordentlich aufgeräumt hatten, und von seiner Frau, daß sie sich an eine Reihe fester Regeln hielt, die er aufgestellt hatte. Kurz gesagt, Heinrich war zwar ein ordentlicher, aber zugleich ein sehr unglücklicher Mensch. Kreativität, die Fähigkeit zu innerer Erneuerung und menschliche Wärme gingen ihm ab. In der Tat stellte er für sich selbst ein Planungsproblem dar, und sein Lebensziel war es, jedes Ding an seinen richtigen Platz zu stellen. Zugleich mit der Beratung versuchte er auch die ersten Schritte zu einem spontaneren Leben. Bald begriff er seine Pläne als Werkzeuge zur Manipulation anderer und als willkommene Ausflüchte, um sich nicht auf das Wagnis des Unbekannten einlassen zu müssen. Seinen Angehörigen gegenüber wurde er zusehends entspannter und nahm es hin, daß sie anders waren, als er es von ihnen erwartet hatte. Nach mehreren Monaten bewarb er sich tatsächlich bei einer anderen Firma um eine Stelle, bei der er häufig würde umziehen müssen. Gerade was er ursprünglich gefürchtet hatte, war nun für ihn begehrenswert geworden. Obwohl Heinrich keineswegs zu einem durch und durch spontanen Menschen geworden ist, hat er doch einen Teil seiner neurotischen Einstellungen, auf denen sich sein früheres durchgeplantes Dasein aufgebaut hatte, erfolgreich in Frage gestellt. Er arbeitet nach wie vor jeden Tag an dieser Aufgabe und lernt allmählich, das Leben zu genießen, anstatt es in ein Ritual zu verwandeln.

141

Sicherheit ist eine Legende!

Vor langer Zeit haben Sie gelernt, einen Schulaufsatz zu verfassen. Sie hörten, daß dazu eine interessante Einleitung, ein wohlgegliederter Hauptteil und ein Schluß erforderlich seien. Dieses Rezept haben Sie nun vielleicht und unglücklicherweise auch auf Ihr Leben angewandt, so daß sich in Ihnen das Gefühl festgesetzt hat, es handle sich dabei um so eine Art Aufsatzthema. Die Einleitung war Ihre Kindheit, in der Sie sich darauf vorbereiteten, ein Mensch zu werden. Der Hauptteil ist Ihr Erwachsenenleben, organisiert und geplant im Hinblick auf den Schluß, der als Ruhestand und Happy-End alles abrundet. Solch schematisches Denken macht es Ihnen unmöglich, im Jetzt und Hier zu leben. Sich an so einen Plan zu halten, bedeutet die Garantie, daß alles auf immer in Ordnung sein wird. Sicherheit als endgültiger Plan ist eine Sache für Leichen. Sicherheit heißt, immer zu wissen, was geschehen wird, heißt: keine Spannung, kein Wagnis, keine Herausforderung. Sicherheit bedeutet: kein Wachstum, und kein Wachstum bedeutet Tod. Außerdem: Sicherheit ist eine Legende. Solange Sie als Mensch auf dieser Erde leben und sich der Lauf der Welt nicht radikal ändert, werden Sie niemals Sicherheit finden. Und selbst wenn es sie wirklich gäbe, wäre ein darauf aufgebautes Leben doch entsetzlich. Gewißheit schließt Spannung – und Wachstum – aus.

Mit «Sicherheit» sind hier äußere Garantien gemeint, von Besitztümern wie Geld, Haus und Auto bis hin zu Grundpfeilern wie der Arbeitsstelle oder der Position innerhalb der Gemeinschaft. Daneben existiert jedoch noch eine andere Sicherheit, die anzustreben wohl wert ist; das ist Ihre innere Sicherheit, mit der Sie darauf vertrauen, daß Sie mit allem fertigwerden können, was auch immer auf Sie zukommen mag. Das ist die einzig dauerhafte, die einzig wirkliche Sicherheit. Dinge können entzweigehen, eine Wirtschaftskrise kann Ihr Geld hinwegfegen, Ihr Haus kann Ihnen wieder weggenommen werden, aber Sie selbst, Sie brauchen Ihre Selbstachtung nicht zu verlieren. Sie können so fest an sich und Ihre innere Stärke glauben, daß Ihnen Besitz oder andere Menschen als bloßes erfreuliches, aber überflüssiges Beiwerk zu Ihrem Leben erscheinen.

Versuchen Sie diese kleine Übung. Nehmen Sie an, daß genau jetzt, in dieser Sekunde, während Sie dieses Buch lesen, ein Unbekannter sich 142auf Sie stürzt, Ihnen die Kleider vom Leib reißt und Sie in einem Hubschrauber entführt. Keine Warnung, kein Geld, nichts als Sie selbst. Sie werden ins Innere eines großen unbekannten Landes geflogen und in einem Feld ausgesetzt. Sie sehen sich einer fremden Sprache, unbekannten Gewohnheiten und einem anderen Klima gegenüber, und Sie haben nichts als sich selbst zur Verfügung. Würden Sie überleben oder zusammenbrechen? Könnten Sie Bekanntschaften schließen, Nahrung, Obdach und so weiter bekommen, oder würden Sie einfach daliegen und jammern, wie hart das Schicksal Sie geschlagen hat, indem es Sie in diese Katastrophe stürzte? Wenn Sie von äußerer Sicherheit abhängig wären, würden Sie untergehen, denn alle Ihre Habseligkeiten wären Ihnen ja weggenommen worden. Besitzen Sie jedoch innere Sicherheit, und stehen Sie dem Unbekannten furchtlos gegenüber, dann würden Sie auch überleben. Sicherheit kann also neu definiert werden als das Wissen, daß Sie sich in allen Situationen irgendwie zurechtfinden würden, das Fehlen äußerer Sicherheit eingeschlossen. Lassen Sie sich nicht durch jene äußere Sicherheit Sand in die Augen streuen, denn sie beraubt Sie der Fähigkeit zu leben, zu wachsen und sich selbst zu erfüllen. Achten Sie einmal auf die Menschen ohne äußere Sicherheit, die nicht schon ihr ganzes Leben vorgezeichnet haben. Könnte es nicht sogar sein, daß sie dem ganzen Betrieb weit voraus sind? Zumindest sind sie in der Lage, Neues auszuprobieren und die Falle zu umgehen, sich stets in sicheren Regionen aufhalten zu müssen.

In seinem kleinen Gedicht «Some Day» – Eines Tages – spricht James Kavanaugh von der Sicherheit:

Irgendwann geh ich fort
und werde frei sein.
Ich lasse den Sterilen
ihre sichere Sterilität.
Ich gehe, ohne zu wissen wohin,
quer durch eine öde Wildnis
und lasse die Welt dort zurück.
Dann wandre ich unbeschwert
wie ein müßiger Atlas.

143

Sie können nicht «versagen»

Aber das «Fortgehen und Freisein», von dem Kavanaugh spricht, ist schwierig, solange Sie der Überzeugung sind, daß Sie vor allem etwas leisten müßten. In unserer Gesellschaft ist die Angst vor Versagen übermächtig; sie wird uns schon in der Kindheit eingeimpft und dann oft das ganze Leben über beibehalten.

Es mag Sie überraschen, das zu hören, aber: Versagen gibt es gar nicht. «Versagen» besteht nämlich bloß in der Meinung eines anderen, wie eine bestimmte Handlung hätte vollendet werden müssen. Sobald Sie einmal eingesehen haben, daß nichts von dem, was Sie tun, in irgendeiner fremdbestimmten Weise ausgeführt zu werden braucht, ist auch Versagen unmöglich.

Es mag jedoch Fälle geben, in denen Ihnen eine bestimmte Aufgabe auch nach Ihren eigenen Maßstäben mißlingt. Dann kommt es darauf an, diese Handlung nicht mit Ihrem Selbstwert zu verquicken. In einem bestimmten Bemühen keinen Erfolg haben, heißt noch lange nicht, als Mensch zu versagen. Es hat nichts weiter zu bedeuten, als daß Sie mit diesem besonderen Versuch in diesem besonderen gegenwärtigen Augenblick erfolglos geblieben sind.

Versuchen Sie einmal, den Begriff des «Versagens» auf tierisches Verhalten anzuwenden. Stellen Sie sich vor, da bellte ein Hund eine Viertelstunde lang und dann erklärte jemand: «Er kann einfach nicht ordentlich bellen, ich würde ihm eine Fünf geben!» Wie unsinnig. Für ein Tier gibt es keine Fehlschläge, weil eine Wertung natürlichen Verhaltens nun einmal nicht vorgesehen ist. Spinnen bauen Netze – nicht gelungene oder mißlungene Netze. Katzen fangen Mäuse; wenn der erste Anlauf danebengeht, machen sie einfach einen neuen. Sie legen sich nicht hin und heulen, sie klagen nicht über die Maus, die entwischt ist, sie erleiden keine Nervenzusammenbrüche, weil sie versagt haben. Natürliches Verhalten ist einfach, was es ist. Warum eigentlich nicht die gleiche Logik auf Ihr eigenes Verhalten übertragen und sich von der Angst vor Versagen losmachen?

Der Leistungsdruck entstammt den drei selbstzerstörerischsten Worten in unserer Kultur. Sie haben sie schon tausendfach gehört und selbst auch im Munde geführt. Tu dein Bestes! Das ist der Eckpfeiler der Leistungsneurose. Tu immer, ganz gleich, was du auch anfängst, 144dein Bestes. Was ist denn gegen eine mittelmäßig Radtour einzuwenden oder gegen einen durchschnittlichen Spaziergang im Park? Warum nicht in Ihrem Leben auch ein paar Dinge tun, die gerade nur so ausreichen, anstatt immer Ihre allerbesten Fähigkeiten einzusetzen? Die Tu-dein-Bestes-Neurose kann es Ihnen außerordentlich schwer machen, neue Aktivitäten zu erproben und die alten voll zu genießen.

Eines Tages kam eine achtzehnjährige Schülerin namens Luisa zu mir in die Beratung, die den Leistungszwang verinnerlicht hatte. Sie war eine klare Einser-Schülerin und war es schon immer gewesen, seit sie zum erstenmal eine Schule betreten hatte. Sie verbrachte lange eintönige Stunden über ihren Hausaufgaben, und die Folge war, daß ihr keine Zeit mehr blieb, ein Mensch zu sein. Luisa war ein leibhaftiger, mit Buchwissen vollgestopfter Computer. Im Umgang mit Jungen jedoch zeigte sie sich krampfhaft schüchtern, war niemals Hand in Hand mit einem Jungen spazierengegangen. Es hatte sich ein nervöses Zucken bei ihr entwickelt, das immer dann auftrat, wenn wir über diese Seite ihrer Persönlichkeit sprachen. Für Luisa hatte sich ihr ganzes Leben bisher darum gedreht, eine vortreffliche Schülerin zu sein, auf Kosten ihrer sonstigen Entwicklung. Während ich mit ihr arbeitete, fragte ich sie, was denn in ihrem Leben eine größere Rolle spiele, «was du weißt, oder was du fühlst?» Luise würde zwar bei der Schulentlassung die Abschlußrede halten, aber innerlich war sie vollkommen aus dem Gleichgewicht und tatsächlich sehr unglücklich. Sie begann allmählich ihre Gefühle wichtiger zu nehmen, und da sie im Lernen so überaus wohltrainiert war, legte sie an das Erlernen neuer sozialer Verhaltensweisen die gleichen strengen Maßstäbe wie an ihre schulische Arbeit an. Ein Jahr darauf erzählte mir Luisas Mutter am Telefon, daß sie sehr besorgt sei, weil ihre Tochter in der Englisch-Anfangsklasse im College ihre allererste Fünf geschrieben hätte. Ich empfahl ihr, das Ereignis gebührend zu feiern und Luisa zum Essen auszuführen.

Der Drang nach Perfektionismus

Warum muß alles, was Sie tun, perfekt sein? Wer führt für Sie Buch? In seinem berühmten Ausspruch über den Perfektionismus deutet Winston Churchill an, wie furchtbar hinderlich das unablässige Streben 145nach Erfolg sein kann:

«Die Maxime ‹Nichts zählt außer dem Erfolg› läßt sich auch Paralyse buchstabieren.»

Mit dem perfektionistischen «Tu dein Bestes»-Unfug können Sie sich selbst lähmen. Vielleicht suchen Sie sich ein paar bedeutsame Gebiete aus, auf denen Sie in Ihrem Leben wirklich Ihr Bestes leisten wollen. Aber bei der überwiegenden Mehrzahl aller Betätigungen wirkt die Forderung, sein Bestes oder auch nur Gutes leisten zu müssen, als Hindernis, überhaupt etwas zu tun. Lassen Sie sich nicht durch Ihren Perfektionismus von potentiell vergnüglichen Aktivitäten ausschließen. Bemühen Sie sich, «Tu dein Bestes» in ein einfaches «Tu» umzuwandeln.

Perfektionismus bedeutet Unbeweglichkeit. Solange Sie den Vollkommenheitsmaßstab an sich anlegen, können Sie weder mit Neuem experimentieren noch überhaupt viel unternehmen, weil «Vollkommenheit» kein Konzept ist, das auf menschliche Wesen anwendbar wäre. Gott mag vielleicht vollkommen sein, aber Sie als Mensch brauchen nicht solche übertriebenen Maßstäbe an sich und Ihr Verhalten anzulegen.

Züchten Sie, falls Sie Kinder haben, nicht Lähmung und Ressentiments in ihnen, indem Sie darauf bestehen, daß sie stets ihr Bestes tun. Sprechen Sie statt dessen mit ihnen über die Dinge, die ihnen offensichtlich am meisten Spaß bereiten, und ermuntern Sie sie vielleicht, sich auf diesen Gebieten ins Zeug zu legen. Aber bei allen übrigen Aktivitäten zählt das Mittun viel mehr als der Erfolg. Halten Sie Ihre Kinder dazu an, sich lieber am Volleyballspiel zu beteiligen, als am Rande zu sitzen und zu beteuern: «Ich kann das nicht gut.» Ermuntern Sie sie dazu, Ski zu laufen, zu singen, zu zeichnen, zu tanzen (oder was auch immer), einfach nur, weil sie das möchten, und umgekehrt nichts zu unterlassen, nur weil sie es vielleicht nicht so gut könnten. Niemand sollte zu ständigem Wetteifern, zu Quälerei oder auch nur zu guten Leistungen angehalten werden. Versuchen Sie lieber, Ihre Kinder in den Bereichen, die sie selbst für wichtig erachten, Selbstachtung, Stolz und Vergnügen zu lehren.

Ein Kind nimmt die verderblichen Anstöße, Selbstwert und Fehlschläge miteinander gleichzusetzen, nur zu bereitwillig auf. Dementsprechend wird es Betätigungen, bei denen es sich nicht hervortut, 146immer mehr aus dem Wege gehen. Was noch gefährlicher ist: es könnte sogar Gewohnheiten niedriger Selbsteinschätzung entwickeln, wie Bestätigungssuche, Schuldgefühle und alle die in den seelischen Problemzonen auftretenden Verhaltensweisen, die mit Selbstablehnung zusammenhängen.

Wenn Sie Ihren Wert mit Ihren Erfolgen und Mißerfolgen vermengen, werden Sie ewig zu Gefühlen der Wertlosigkeit verurteilt sein. Nehmen Sie Thomas Edison. Hätte er Fehlschläge zum Barometer seiner Selbstachtung gemacht, dann hätte er sich nach seinem ersten mißlungenen Versuch selbst aufgegeben, sich zum Versager erklärt und seine Bemühungen, die Welt zu erleuchten, abgebrochen. Man kann aus Mißerfolgen lernen. Sie können als Anreiz zu weiterer Arbeit und Forschung wirken. Sie lassen sich sogar als Erfolg betrachten, wenn sie nämlich den Weg zu neuen Entdeckungen weisen. Wie Kenneth Boulding schreibt:

«Kürzlich habe ich ein paar Volksweisheiten durchgesehen. Eines meiner neu herausgegebenen Sprichwörter lautet: ‹Nichts ist erfolgloser als der Erfolg› – weil man rein gar nichts daraus lernt. Das einzige, woraus wir Lehren ziehen können, ist der Mißerfolg. Erfolg bestätigt nur unsere abergläubischen Ideen.»

Da sieh mal an. Obwohl wir ohne Fehlschläge nichts lernen können, haben wir uns an die Hochschätzung des Erfolgs als des einzig gültigen Maßstabs gewöhnt. Wir neigen dazu, allen Erlebnissen, die nicht glorreich für uns ausgehen könnten, von vornherein aus dem Weg zu gehen. Angst vor Versagen bildet einen wesentlichen Teil der Angst vor dem Unbekannten. Alles, was nicht nach sicherem Erfolg aussieht, ist zu meiden. Mißerfolge scheuen heißt soviel wie sowohl vor dem Unbekannten wie auch vor der Mißbilligung zurückschrecken, die wir auf uns ziehen, wenn wir nicht unser Bestes tun.

Die Angst vor dem Unbekannten

Ein paar typische, von der Angst vor dem Unbekannten hervorgerufene Verhaltensweisen haben wir bereits besprochen. Neue Erfahrungen abwehren, Starrheit, Vorurteile, sklavisches Festhalten am vorgefaßten Plan, das Bedürfnis nach äußerer Sicherheit, Angst vor Versagen und 147Perfektionismus sind alles Subzonen in dieser umfangreichen selbstbeschränkenden Problemzone. Nachfolgend finden Sie eine Zusammenstellung der häufigsten spezifischen Beispiele dieser Kategorie. Sie können sie als Prüfliste benützen, um Ihr eigenes Verhalten abzuschätzen.

Das waren nur ein paar wenige Beispiele ungesunden, durch Angst vor dem Unbekannten erzeugten Verhaltens. Wahrscheinlich können Sie Ihre persönliche Liste aufstellen. Aber wie wäre es denn, anstatt Listen zu machen, sich die Frage zu stellen, warum Sie eigentlich jeden Tag genau wie den vorangegangenen leben wollen, ohne Möglichkeiten zum Wachstum?

Das seelische Korsett, mit dem Sie sich vor dem Unbekannten schützen

Hier folgen einige gebräuchliche Entschädigungen, die Sie davor bewahren, im erfrischend Unbekannten herumzustromern.

Wie man das Geheimnisvolle und Unbekannte beim Schopf packt

Sie brauchen wirklich keine Angst vor dem Unbekannten zu haben

Die obigen Vorschläge stellen konstruktive Maßnahmen zur Bekämpfung der Angst vor dem Unbekannten dar. Der ganze Prozeß beginnt mit neuen Einsichten in Ihr Vermeidungsverhalten, dem dann aktives Infragestellen der alten Verhaltensweisen und Ausgreifen in neue Richtungen folgen. Stellen Sie sich nur einmal vor, die großen Erfinder und 156Entdecker vergangener Zeiten hätten sich vor dem Unbekannten gefürchtet – dann säße die gesamte Weltbevölkerung heute noch im Tal von Euphrat und Tigris. Das Unbekannte ist der Ort, wo das Wachstum wohnt. Das der Zivilisation genauso wie das des Individuums. Denken Sie sich eine Straße mit einer Gabelung. In der einen Richtung liegt Sicherheit, in der andere das große unerforschte Unbekannte. Welche Straße würden Sie wählen?

Robert Frost beantwortet diese Frage in seinem Gedicht «The Road Not Taken» – Der Weg, den ich nicht nahm.

«Zwei Wege trennten sich in einem Wald, und ich –
ich nahm den, der weniger begangen,
und das machte allen Unterschied.»[6]

Die Wahl liegt nun bei Ihnen. Ihre seelische Problemzone der Angst vor dem Unbekannten wartet nur darauf, durch neue aufregende Unternehmungen ersetzt zu werden, die Freude in Ihr Leben bringen. Sie brauchen nicht zu wissen, wohin die Reise geht – solange Sie sich nur auf Ihren Weg gemacht haben!

157

VII.
Schluß mit den Konventionen

Es gibt keine Regeln, Gesetze oder Traditionen,
die universell gültig wären …
diese eingeschlossen.

Es gibt unzählige «Du solltest»-Gebote auf der Welt, die die Menschen ungeprüft zu einem Bestandteil ihrer Verhaltensmuster machen, und die Summe der Solls bildet eine ausgedehnte seelische Problemzone. Vielleicht befolgen auch Sie eine Reihe von Regeln und Prinzipien, von denen Sie nicht einmal wirklich überzeugt sind, von denen Sie sich jedoch andererseits auch nicht lösen können, um für sich selbst zu entscheiden, was für Sie sinnvoll ist und was nicht.

Nichts ist absolut. Es gibt keine Regeln oder Gesetze, die immer gültig wären und bei allen Gelegenheiten den größtmöglichen Nutzen für alle erbrächten. Flexibilität ist demgegenüber eine viel höhere Tugend, und dennoch mag es Ihnen sehr schwierig, ja in der Tat sogar unmöglich erscheinen, ein untaugliches Gesetz zu übertreten oder sich gegen unsinnige Traditionen aufzulehnen. Sich den kulturellen Normen der Gesellschaft anzupassen – auch «Enkulturation» genannt –, mag Ihrem Vorwärtskommen manchmal dienlich sein; wird die Anpassung aber auf die Spitze getrieben, dann kann sich daraus eine Neurose entwickeln, vor allem dann, wenn Ihr Verhältnis zu den Solls Sie unglücklich, depressiv und ängstlich macht.

Hier soll keineswegs gefolgert oder auch nur angedeutet werden, daß Sie die Gesetze mißachten oder Vorschriften allein deshalb übertreten sollten, weil es Ihnen gerade so paßt. Ohne Gesetze können wir nicht auskommen, und Ordnung spielt in der zivilisierten Gesellschaft eine wesentliche Rolle. Blinde Abhängigkeit jedoch von Konventionen ist etwas ganz anderes, etwas, was sich in der Tat für den einzelnen weitaus destruktiver auswirken kann als die Verletzung von Regeln. 158Nicht selten sind Vorschriften ungereimt, haben Traditionen ihren Sinn ganz verloren. Wenn das der Fall ist und Sie nicht mehr imstande sind, bestimmte Bedürfnisse auszuleben, weil Sie unter dem inneren Zwang stehen, sinnlose Vorschriften befolgen zu müssen, dann ist es an der Zeit, sowohl die Vorschriften als auch Ihr Verhalten zu überdenken.

Wie Abraham Lincoln einmal gesagt hat: «Ich habe nie einen politischen Grundsatz gehabt, den ich ausnahmslos hätte anwenden können. Ich habe mich einfach bemüht, das zu tun, was mir im Augenblick als das Sinnvollste erschien.» Er machte sich nicht zum Sklaven einer Politik, die in jedem einzelnen Falle hätte gelten müssen, selbst wenn sie in dieser Absicht konzipiert worden war.

Ein Soll ist dann erst als schädlich anzusehen, wenn es gesundem und effektivem Verhalten in die Quere kommt. Wenn Sie sich bei ärgerlichem oder sonstwie unfruchtbarem Verhalten ertappen, das aus einer Soll-Vorschrift herrührt, dann haben Sie Ihre Wahlfreiheit aufgegeben, um sich von einer äußeren Instanz steuern zu lassen. Eine genauere Untersuchung des Sachverhalts Innen- kontra Außensteuerung wird von Nutzen sein, bevor wir dann weiter auf die trügerischen Muß-Bestimmungen eingehen, die womöglich auch in Ihrem Leben für Verwirrung sorgen.

Die Abhängigkeit von äußeren Normen

Laut Schätzungen sind ganze 75 Prozent der Menschen in unserer Kultur in ihrer Persönlichkeitsausrichtung mehr außen- als innengewendet. Die Wahrscheinlichkeit spricht also dafür, daß auch Sie sich in dieser Kategorie befinden. Was hat das nun zu bedeuten, im Hinblick auf Ihren Kontrollpunkt zu den «Äußeren» zu gehören? Im Wesentlichen: Sie sind außengewendet, wenn Sie die Verantwortung für Ihre gegenwärtigen Gefühlszustände Dingen oder Menschen außerhalb Ihrer selbst zuschieben. Wenn man Sie also fragen sollte: «Warum sind Sie niedergeschlagen?» und Sie Antworten gäben wie: «Meine Eltern behandeln mich schlecht», «Sie hat meine Gefühle verletzt», «Meine Freunde mögen mich nicht», «Mein Stern ist gesunken» oder «Es klappt halt alles nicht» – dann gehören Sie zur «Außen»-Kategorie. 159Wenn man umgekehrt von Ihnen wissen wollte, warum Sie so glücklich sind und Sie erwiderten: «Meine Freunde behandeln mich gut», «Mein Schicksal hat sich gewendet», «Es geht mir keiner auf die Nerven» oder «Sie hat meine Erwartungen erfüllt», dann bewegen Sie sich gleichfalls noch im Rahmen der Außensteuerung, indem Sie die Verantwortung für Ihre Gefühle bestimmten Instanzen außerhalb Ihrer selbst zuweisen.

Der Mensch mit Innenkontrollpunkt legt sich die Verantwortung für das, was er empfindet, wacker auf die eigenen Schultern. So ein Mensch hat allerdings in unserer Kultur Seltenheitswert. Er gibt auf die obigen Fragen innenorientierte Antworten wie: «Ich sage mir die falschen Sachen vor», «Ich lege zuviel Wert auf das, was andere sagen», «Mich kümmert, was ein anderer denkt», «Ich bin im Augenblick nicht stark genug, um nicht unglücklich zu sein» und «Ich habe nicht das Geschick, mir die Niedergeschlagenheit zu ersparen». Befindet sich der Mensch, der innerlich im reinen ist, in einem Hoch, dann bringt er die entsprechenden «Ich»-Antworten vor, zum Beispiel: «Ich habe mir viel Mühe gegeben, glücklich zu sein», «Ich habe es fertiggebracht, mit fast allen Dingen gut zurechtzukommen», «Ich sage mir selbst das Richtige vor», «Ich leite mich selbst, und genau an diesem Punkt hier möchte ich stehen». Ein Viertel der Leute, so sehen wir, übernehmen also die Verantwortung für ihre Gefühle selbst, während drei Viertel äußeren Quellen die Schuld daran geben. Wo stehen Sie? Die Soll-Vorschriften und Traditionen werden allesamt durch äußere Instanzen auferlegt. Das heißt, sie kommen von Menschen oder Dingen außerhalb Ihrer selbst. Im Falle, daß Sie überhäuft mit Solls und außerstande sind, sich über die von anderen aufgestellten Normen hinwegzusetzen, gehören Sie zur Außenabteilung.

Ein ausgezeichnetes Beispiel für die außengeleitete Denkweise liefert eine Klientin, die kürzlich zu mir kam. Nennen wir sie Barbara. Ihr Hauptkummer war ihr Korpulenzproblem, aber daneben kam sie noch mit einem ganzen Wust kleinerer Klagen an. Als wir damit begannen, über ihre Gewichtsprobleme zu reden, erklärte sie, daß sie schon immer übergewichtig gewesen sei, weil sie auch unter einem Stoffwechselproblem leide, und darüber hinaus sei sie als Kind von ihrer Mutter zum Essen gezwungen worden. Das Muster des Überessens habe sie später beibehalten, weil ihr Ehemann sie vernachlässige und 160ihre Kinder rücksichtslos seien. Sie hätte es ja mit allem versucht, jammerte sie, mit Schlankheitsdiäten, mit Pillen, einer bunten Reihe von Ernährungsberatern, ja sogar mit Astrologie. Die Therapie sollte nun ihre letzte Zuflucht sein. Wenn ich ihr nicht zum Abnehmen verhelfen könnte, versicherte sie, dann könne das niemand.

In Anbetracht der Art, wie Barbara ihre Geschichte erzählte – und wie sie ihrem eigenen Dilemma gegenüberstand –, konnte es nicht verwundern, daß es ihr nicht gelang, die unerwünschten Pfunde loszuwerden. Alles und jedes hatte sich gegen sie verschworen – ihre Mutter, ihr Ehemann, ihre Kinder, ja sogar ihr Körper und die Sterne. Diätvorschriften und Ernährungsdoktoren mochten ja vielleicht weniger geprüften Seelen helfen, aber in Barbaras Fall waren die widrigen Umstände einfach übermächtig.

Barbara war ein klassisches Beispiel außengeleiteten Denkens. Dick machten sie ihre Mutter, ihr Mann, ihre Kinder und ein unkontrollierbarer Teil ihres eigenen Körpers. Ihre eigenen Entscheidungen, bestimmte Nahrungsmittel zu bestimmten Zeiten zu essen – in zu reichlichen Mengen zu essen –, spielten dabei für sie keine Rolle. Ihre Versuche, ihre Situation zu verbessern, waren überdies nicht minder außengesteuert als ihre Auffassung des ganzen Problems. Anstatt sich einzugestehen, daß sie in der Vergangenheit die Entscheidung getroffen hatte, sich zu überessen; daß sie lernen müßte, sich umzuentscheiden, wenn sie Gewicht verlieren wollte, wandte Barbara sich anderen Menschen und Dingen zu – den für die Gewichtsabnahme geltenden gesellschaftlichen Konventionen. Als alle ihre Freundinnen Schlankheitskuren machten, begann auch Barbara damit. Hatte eine der Freundinnen einen neuen Ernährungsspezialisten entdeckt, dann folgte ihr Barbara dicht auf den Fersen, um ebenfalls bei ihm Hilfe zu suchen.

Nach mehrwöchiger Beratung fing Barbara an, allmählich einzusehen, daß ihr Kummer und ihre Beschwerden nicht die Folge fremden Handelns, sondern ihrer eigenen Entscheidungen waren. Es begann mit dem Eingeständnis, daß sie ganz einfach zuviel aß, oft mehr, als sie eigentlich wollte, und daß sie nicht genügend Bewegung hatte. Ihr erster Entschluß war, ihre Eßgewohnheiten mit Hilfe reiner Selbstdisziplin zu ändern. Sie konnte und wollte ihr Denken in die Hand bekommen. Wenn sie das nächste Mal Hunger hätte, so nahm sie sich vor, würde sie sich statt mit einem Keks lieber mit dem Gedanken an 161ihre eigene innere Stärke belohnen. Anstatt ihrem Ehemann und ihren Kindern weiter vorzuwerfen, sie gingen schlecht mit ihr um und trieben sie dadurch zum Essen, sah sie nach und nach ein, daß sie jahrelang die Märtyrerin gespielt und die anderen buchstäblich dazu ermuntert hatte, sie auszubeuten. Sobald Barbara darauf bestand, gut behandelt zu werden, entdeckte sie, daß ihre Familie geradezu darauf gewartet hatte, und statt Tröstung beim Essen zu suchen, fand sie Erfüllung in Beziehungen, die sich auf gegenseitigen Respekt und Liebe gründeten.

Barbara beschloß außerdem, weniger Zeit mit ihrer Mutter zu verbringen, die, wie ihr inzwischen klargeworden war, ihr Leben mit Maxiportionen regiert und runiert hatte. Als sie einmal erkannt hatte, daß nicht ihre Mutter sie steuerte; daß sie sie sehen konnte, wann es ihr paßte und nicht wenn ihre Mutter es wollte; daß sie genauso das Stück Schokoladenkuchen nicht schon deswegen zu essen brauchte, weil ihre Mutter es verlangte – da begann Barbara, die Zeit, die sie mit ihrer Mutter verbrachte, mit Freude und nicht mehr mit Unbehagen zu erleben.

Schließlich sah sie auch ein, daß die Therapie ganz allein ihre Sache war. Ich konnte sie nicht verändern. Sie mußte sich selbst ändern. Es dauerte einige Zeit, aber Stück für Stück und mit einiger Anstrengung setzte Barbara ihre eigenen inneren Normen an die Stelle der äußeren «Du solltest»-Vorschriften. Sie ist jetzt nicht nur schlanker, sondern auch glücklicher. Sie weiß jetzt, daß nicht ihr Ehemann oder ihre Kinder, ihre Mutter oder die Sterne sie glücklich machen. Sie weiß, daß sie selbst das tut, denn inzwischen ist sie es, die ihr eigenes Denken steuert.

Fatalisten, Deterministen und alle, die an Schicksal glauben, gehören zur Außenabteilung. Wenn Sie der Ansicht sind, Ihr Leben sei schon im voraus vorgezeichnet und Sie brauchten nur noch den entsprechenden Wegen zu folgen, dann stecken Sie höchstwahrscheinlich bis über die Ohren in Soll-Vorschriften, die dafür sorgen, daß Sie auch von Ihrem Plan nicht abgehen.

Sie können niemals Selbsterfüllung finden, solange Sie es weiter zulassen, daß Sie von äußeren Instanzen gesteuert werden, oder solange Sie weiterhin daran glauben, daß äußere Mächte Sie steuern würden. Erfolgreich sein heißt nicht, alle Probleme aus seinem Leben hinwegzuschaffen, wohl aber, seinen Kontrollpunkt vom Äußeren ins Innere 162zu verlegen. Dadurch machen Sie sich selbst zum Verantwortlichen für alles, was Sie emotional erleben. Sie sind kein Roboter, der sein Leben in einem Labyrinth fremder Regeln und Bestimmungen führt, die für Sie selbst noch nicht einmal sinnvoll sind. Werfen Sie ruhig einen strengeren Blick auf die «Regeln» und beginnen Sie, eine innere Kontrolle über Ihr Denken, Fühlen und Verhalten auszuüben.

Beschuldigungen und Heldenverehrung

Anderen Vorwürfe machen ist eine ganz geschickte Einrichtung, derer Sie sich immer dann bedienen können, wenn Sie für bestimmte Dinge in Ihrem Leben keine Verantwortung übernehmen möchten. Sie ist die Zufluchtsstätte des außenorientierten Menschen.

Andere zu beschuldigen ist reine Zeitverschwendung. Ganz egal, wieviel Sie einem anderen vorzuwerfen haben, ganz egal, was Sie ihm alles ankreiden – Sie wird das alles nicht verändern. Das einzige, was durch Beschuldigungen erreicht wird, ist die Ablenkung Ihrer Aufmerksamkeit von sich selbst, wenn Sie nach äußeren Gründen für Ihre Misere oder Ihre Frustration Ausschau halten. Und selbst wenn dadurch irgend etwas bewirkt werden sollte, dann nicht bei Ihnen. Es mag Ihnen zwar gelingen, einem anderen durch Ihre Anklagen Schuldgefühle einzuflößen, aber die Dinge, die Sie in Ihrem Leben unglücklich machen, können Sie dadurch nicht ändern. Wohl mögen Sie es schaffen, nicht an diese Dinge zu denken – aber nicht, sie zu verändern.

Die Tendenz, sich auf andere zu konzentrieren, kann sich ins andere Extrem wenden und dort als Heldenverehrung zutage treten. In diesem Fall ist es möglich, daß Sie immer auf andere schauen, die Ihre Werte für Sie festsetzen sollen. Wenn Margarete oder Johannes das tun, dann sollte ich es auch tun. Heldenverehrung ist eine Form des Sich-selbst-Zurückweisens. Sie verleiht den anderen höhere Bedeutung als Ihnen und knüpft Ihre Erfüllung an Faktoren, die außerhalb Ihrer selbst liegen. Sicherlich ist an der Hochschätzung anderer Menschen und ihrer Talente noch nichts Selbstschädigendes; zur seelischen Problemzone wird sie erst dann, wenn Sie Ihr Verhalten nach den Maßstäben anderer ausrichten.

Alle Ihre Helden sind Menschen. Sie sind alle sterblich. Keiner dieser 163Helden hat Ihre Bemühungen wirklich verdient.

Welcher dieser großen Helden hat Sie in Ihrem Leben irgend etwas gelehrt? Keiner ist auch nur ein bißchen besser als Sie. Politiker, Schauspieler, Sportler, Rockstars, Ihr Chef, Therapeut, Lehrer, Ehegatte oder wer immer es auch sei – alle sind sie nur bewandert in dem, was sie tun, weiter nichts. Wenn Sie sie zu Helden machen und auf ein Podest erheben, dann gehören auch Sie eben dem Außen-Typ an, der anderen die Verantwortung für die eigenen positiven Gefühle zuweist.

Ob Sie nun einerseits beschuldigen und andererseits verehren – Ihr Plätzchen auf der Skala der sich Nach-Anderen-Richtenden-Roboter (NARR) haben Sie doch:

NARR-Skala

Außerhalb seiner selbst nach Erklärungen dafür suchen, wie man sich fühlen oder was man wohl tun sollte, heißt, sich närrisch aufzuführen. Sowohl Verdienst wie auch Verantwortung selber tragen, ist der erste Schritt zur Beseitigung der seelischen Problemzone. Seien Sie Ihr eigener Held! Wenn Sie Beschuldigungs- und Heldenverehrungsverhalten den Rücken kehren, bewegen Sie sich damit von der «äußeren» zur «inneren» Seite des Hauptbuchs hin. Und auf der inneren Seite stehen keine allgemeingültigen Solls mehr, weder für Sie noch für andere.

Die «Richtig kontra Falsch»-Falle

Die Frage, ob etwas richtig oder falsch ist, wollen wir hier nicht unter religiösen, philosophischen oder moralischen Gesichtspunkten behandeln, die zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden versuchen. Eine solche Diskussion gehört nicht hierher. Hier sind Sie das Subjekt, und die Rede ist davon, wie Ihre Vorstellungen von Richtig und Falsch Ihrem Glücklichsein im Wege stehen. Was Sie für «Richtig» oder «Falsch» halten, drücken auch gleichzeitig Ihre universellen Soll-Vorschriften aus. Womöglich haben Sie ungesunde Standpunkte eingenommen, etwa auch den, «richtig» sei gleichzusetzen mit «gut» und «gerecht», «falsch» dagegen mit «schlecht» und «ungerecht». Mumpitz – 164es gibt in diesem Sinne kein Richtig und Falsch. Das Wort «richtig» garantiert anscheinend todsichere Resultate, solange Sie Dinge unter ganz bestimmten Voraussetzungen tun. Aber es gibt keine Garantien. Sie können anfangen, jede Entscheidung unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, ob sie etwas anderes, Effektiveres oder Legales erbringt; aber in dem Augenblick, in dem eine Entscheidung zur Frage von Richtig oder Falsch wird, sitzen Sie schon in der Falle des «Ich muß es unbedingt richtig machen, und wenn die Dinge oder Menschen nicht richtig sind, dann fühle ich mich unglücklich.»

Vielleicht hängt Ihr Bedürfnis, immer die richtige Antwort zu finden, mit dem Streben nach Gewißheit zusammen, von dem im Kapitel über die Angst vor dem Unbekannten die Rede war. Das kann dem Bedürfnis entsprechen, die Dinge stets zu polarisieren, das heißt, die Welt säuberlich in Gegensätze wie schwarz/weiß, ja/nein, gut/schlecht und richtig/falsch aufzuteilen. Nur wenige Dinge lassen sich reibungslos in diese Kategorien einordnen. Die meisten Zeitgenossen schweifen denn auch in den Übergangszonen umher und verweilen kaum je in Bezirken des reinen Schwarz oder Weiß. Der Hang zum Rechthaben erscheint am deutlichsten in der Ehe und anderen Beziehungen zwischen Erwachsenen. Diskussionen entarten unweigerlich zu einem Wettstreit, in dem der eine Partner recht und der andere unrecht bekommt. Man hört es ständig. «Du meinst immer, du hättest recht», und «Nie willst du zugeben, daß du unrecht hast.» Aber hier gibt es kein Recht und Unrecht. Die Menschen sind verschieden voneinander, und sie betrachten die Dinge aus unterschiedlichem Blickwinkel. Wenn man unbedingt recht haben muß, ist der Zusammenbruch der Kommunikation voraussehbar.

Die einzige Möglichkeit, sich aus dieser Falle zu befreien, besteht darin, die Denkmuster, in denen alles als falsch oder richtig eingeordnet wird, aufzugeben. Wie ich Georg erklärte, in dessen Ehe es jeden Tag und über jedes erdenkliche Thema Streit gab: «Warum nicht lieber Gespräche führen, in denen Sie keine ‹Du solltest aber …›-Erwartungen an Ihre Frau stellen, anstatt zu versuchen, sie davon zu überzeugen, wie sehr sie im Unrecht ist. Nur wenn sie auch das Recht hat, anders zu sein als Sie, können Sie von dem unablässigen Argumentieren loskommen, in dem Sie beharrlich, wenn auch vergebens, immer nur recht zu bekommen versuchen.» Es gelang Georg, dieses neurotische 165Bedürfnis abzubauen und außerdem auch wieder Kommunikation und Liebe in seine Ehe zurückzubringen. – Alle die unterschiedlichen Richtig und Falsch stellen Solls der einen oder anderen Art dar. Und die Solls werfen Ihnen Knüppel zwischen die Beine, namentlich dann, wenn sie mit den Zwängen der anderen, ihre eigenen Gebote durchzusetzen, in Konflikt geraten.

Die Ursachen der Unentschlossenheit

Einmal fragte ich einen Klienten, ob es ihm schwerfiele, Entscheidungen zu treffen, worauf er zur Antwort gab: «Nun … ja und nein.» Vielleicht fällt es Ihnen häufig schwer, sich zu entscheiden, womöglich sogar in kleinen Dingen. Das ist eine unmittelbare Auswirkung der Neigung, alles in Richtig-Falsch-Kategorien einzuteilen. Die Unentschlossenheit erwächst aus dem Wunsch, auch ja das Richtige zu tun. Durch das Aufschieben der Entscheidung ersparen Sie es sich zunächst, mit der Angst fertig zu werden, die Sie immer dann wählen, wenn Sie fürchten, es falsch gemacht zu haben. So kann der Versuch, die richtige Universität auszuwählen, für lange Zeit lähmen, sogar dann noch, wenn die Entscheidung bereits gefallen ist – weil es ja vielleicht doch nicht die richtige war. Gehen Sie statt dessen lieber so vor: «Die ‹richtige› Universität gibt es gar nicht. Wähle ich A, dann habe ich wahrscheinlich mit ganz bestimmten Verhältnissen und Voraussetzungen zu rechnen, während B vermutlich jene bringen wird.» Keines ist richtig; sie sind einfach unterschiedlich, und Garantien gibt es keine, außer der Wahl, A, B oder Z zu besuchen. Genauso können Sie Ihre neurotische Unentschlossenheit abschwächen, indem Sie die möglichen Folgen nicht als richtig oder falsch, gut oder schlecht, auch nicht als besser oder schlechter ansehen – sondern bloß als unterschiedlich. Kaufen Sie dieses Kleid, das Ihnen gut gefällt, dann werden Sie so und so darin aussehen; das ist nur anders – nicht besser –, als jenes Kleid zu tragen. Wenn Sie einmal das ganze selbstzerstörerische und unzutreffende Richtig und Falsch aufgeben, wird das Entscheiden für Sie ein einfaches Abwägen, welche Konsequenzen Sie momentan vorziehen würden. Und wenn Sie wieder anfangen, Bedauern über einen gefaßten Beschluß zu wählen – anstatt sich klarzumachen, daß Sie damit ja nur 166Ihre Zeit verschwenden, indem Sie sich von Vergangenem nicht lösen können –, dann beschließen Sie kurzerhand, im nächsten gegenwärtigen Augenblick eine andere Entscheidung zu fällen, die die gewünschten Folgen, die die erste Entscheidung nicht gezeitigt hat, dann erbringen wird. Aber nie den Versuch machen, das Ganze in Richtig-Falsch-Kategorien zu zwängen!

Vielleicht halten Sie verkehrte Ideen für schlecht und meinen, sie sollten gar nicht erst geäußert werden, während man dazu ermuntern sollte, richtige Überlegungen auch auszusprechen. Ihren Kindern, Ihren Freunden oder Ihrem Ehepartner gegenüber vertreten Sie vielleicht die Ansicht: «Was man nicht richtig sagt oder tut, ist es nicht wert, überhaupt gesagt oder getan zu werden.» Hier lauert jedoch Gefahr. Auf nationale und internationale Verhältnisse übertragen, führt eine solche autoritäre Haltung zu einem Totalitarismus. Wer entscheidet, was richtig ist? Das ist die eigentliche Frage. Sie kann niemals befriedigend beantwortet werden. Das Gesetz entscheidet nicht, ob etwas falsch, sondern nur, ob es legal ist. Vor mehr als einem Jahrhundert hat John Stuart Mill in «Über die Freiheit» erklärt:

«Wir können niemals sichergehen, daß eine Meinung, die zu unterdrücken wir uns bemühen, falsch ist; und selbst wenn wir davon überzeugt sein könnten, wäre ihre Unterdrückung gleichwohl ein Verbrechen.»

Ihre Lebenstüchtigkeit ist nicht abhängig von der Fähigkeit, richtige Entscheidungen zu treffen. Die Art, wie Sie nach getroffener Entscheidung emotional mit sich selbst umgehen, zeigt viel genauer an, wieweit Sie im gegenwärtigen Augenblick mit sich selbst in Einklang stehen, da eine «richtige» Wahl die Solls widerspiegelt, die Sie doch beseitigen möchten. Andere Denkmodelle zu finden und anzuwenden wird Ihnen dabei in zweierlei Hinsicht zu Hilfe kommen – einmal verbannen Sie dadurch die sinnlosen Soll-Vorschriften und verlagern Ihren Kontrollpunkt weiter nach innen, und zum andern wird Ihnen das Entscheiden ohne die illusorischen Richtig-Falsch-Kategorien viel weniger Kopfzerbrechen bereiten.

167

«Ich sollte …», «Ich müßte …» und «Eigentlich …»

Von dem Psychiater Albert Ellis stammt ein raffinierter Ausdruck für die Tendenz, Solls in sein Leben einzuschließen, nämlich: «Musterbation». Sie «musterbieren» immer dann, wenn Sie sich – obwohl Sie vielleicht von sich aus andere Verhaltensformen vorzögen – auf ganz bestimmte Art und Weise verhalten, weil Sie glauben, sich so verhalten zu müssen. Karen Horney, eine bekannte amerikanische Psychoanalytikerin, hat diesem Thema ein ganzes Kapitel ihres Buches «Neurose und menschliches Wachstum» gewidmet, das sie «Die Tyrannei des Solls» überschreibt. Sie bemerkt:

«Innere Gebote erzeugen immer ein Gefühl von Druck, das um so stärker ist, je mehr ein Mensch versucht, seine Solls in seinem Verhalten zu verwirklichen … Außerdem tragen die Solls durch Projektionen immer zu Störungen in mitmenschlichen Beziehungen bei.»[7]

Üben Soll-Vorschriften großen Einfluß auf Ihr Leben aus? Glauben Sie, Sie sollten freundlich zu Ihren Kollegen und Ihrem Ehepartner eine Stütze sein, hilfreich mit Ihren Kindern umgehen und ständig hart arbeiten? Setzen Sie sich selbst herab, wenn Sie eines dieser Gebote einmal übertreten und dadurch Platz für den Druck und die Störungen machen, auf die Karen Horney oben hinweist? Möglicherweise sind das jedoch gar nicht Ihre Solls. Wenn sie in Wirklichkeit anderen gehören und Sie sie nur ausgeborgt haben, dann musterbieren Sie.

Es gibt nicht weniger innere Verbote als Gebote. Dazu zählen: Du solltest nicht unverschämt, ärgerlich, einfältig, albern, infantil, unanständig, sauertöpfisch, beleidigend und Dutzende anderer Dinge noch sein. Aber musterbieren sollten Sie nicht. Niemals. Es macht nichts, wenn Ihnen einmal der Kragen platzt oder wenn Sie einer Situation verständnislos gegenüberstehen. Sie dürfen ruhig auch würdelos sein, wenn Sie es wollen. Niemand führt Buch über Ihr Verhalten oder bestraft Sie dafür, nicht so zu sein, wie andere es Ihnen vorschreiben wollen. Außerdem können Sie nicht ab und zu etwas sein, was Sie nicht die ganze Zeit über sein wollen. Das ist unmöglich. Jedes Soll muß 168deshalb notwendigerweise Druck in Ihnen hervorrufen, weil Sie gar nicht in der Lage sind, Ihre eigenen illusorischen Erwartungen zu erfüllen. Dieser Druck rührt nicht aus Ihrem würdelosen, zuwenig hilfsbereiten, taktlosen oder sonstigen Betragen her, sondern aus der Last des Soll-Gebotes.

Sie brauchen keinen Knigge

Ein wunderschönes Beispiel unnützer und ungesunder Enkulturation liefert uns die Etikette. Denken Sie an die Unzahl bedeutungsloser kleiner Vorschriften, die Sie sich aneignen mußten, bloß weil ein Herr von Knigge und seine Nachfahren sie aufgeschrieben haben. Köpf dein gekochtes Ei auf die und die Art; fang immer erst dann an zu essen, wenn die Gastgeberin damit begonnen hat; stelle immer den Mann der Frau vor; bei einer Hochzeit setz dich auf die und die Seite des Kirchenschiffs; gib soundso viel Trinkgeld; ziehe dich soundso an; gebrauche diese oder jene Wendung. Frag dich nicht selbst – schau im Buch nach! Während gegen gute Manieren nichts einzuwenden ist – schon weil sie Rücksichtnahme mit sich bringen –, bestehen die Richtlinien der Etikette doch zu ungefähr neunzig Prozent aus bedeutungslosen Regeln, die irgendwann einmal willkürlich zusammengestellt wurden. Es gibt keinen «guten Ton» für Sie; nur was Sie selbst als richtig empfinden gilt – solange Sie es anderen nicht schwermachen, damit auszukommen. Sie können selbst entscheiden, wie Sie essen wollen und so fort, Ihren eigenen Wünschen entsprechend. Jedesmal, wenn Sie in die Falle des «Was sollte ich anziehen?» oder «Wie sollte ich das tun?» gehen, geben Sie einen Teil Ihrer selbst auf. Ich will hier keineswegs sozialem Rebellentum das Wort reden – das wäre eine Form der Bestätigungssuche durch nonkonformes Verhalten –, sondern Sie in Ihrer täglichen Lebensführung zu Selbst- an Stelle von Fremdsteuerung aufrufen. Sich selbst treu sein heißt, auf ein äußeres Stützsystem verzichten zu können.

169

Blinde Befolgung von Regeln und Gesetzen

Ein Großteil der schändlichsten Taten in den Annalen der Geschichte wurde unter dem Deckmantel des Befehlsgehorsams verübt. Die Nazis brachten sechs Millionen Juden um und mordeten und mißhandelten weitere Millionen, weil das «Gesetz es befahl». Später, nach dem Krieg, wurde die Verantwortung für diese Barbarei hastig auf immer höhere Ränge der Nazi-Hierarchie geschoben, bis als einzige, die man in ganz Deutschland noch für die abscheulichen Verbrechen zur Rechenschaft ziehen konnte, Hitler und seine nächsten Helfershelfer übrigblieben. Alle anderen waren nur Befehlen oder dem Gesetz des Dritten Reiches gefolgt.

Im Bezirk Suffolk im Staat New York erklärte ein Verwaltungssprecher vor kurzem, warum die Bürger, denen man versehentlich zu hohe Grundsteuern abverlangt hatte, keine Rückzahlung erhalten könnten. «Im Gesetz heißt es, daß die alten Steuerbescheide nicht neu festgesetzt werden können, sobald sie bezahlt sind. So ist die Rechtslage, daran kann ich auch nichts ändern. Meine Aufgabe ist es, das Gesetz durchzusetzen, nicht, es zu deuten.» Zu anderer Zeit und an anderem Ort hätte er fürwahr einen ausgezeichneten Scharfrichter abgegeben. - Aber Sie kennen diese alte Leier, hören Sie sie doch täglich. Denk nicht, befolge nur die Vorschriften, selbst wenn sie widersinnig sind!

Jede zweite Vorschrift in Schwimmbädern, Sportanlagen und anderen öffentlichen Einrichtungen ergibt keinen Sinn. An einem warmen Abend fragte ich neulich eine Gruppe junger Leute, die um ein Schwimmbecken herum saßen und offensichtlich darauf brannten, ins Wasser zu kommen, warum sie denn am Rande herumlungerten, obwohl das Becken ganz leer war. Zwischen sechs und acht Uhr abends wäre Badezeit für Erwachsene, antworteten sie. So lautete die Bestimmung, und obwohl kein Erwachsener in der Nähe war, wurde sie dennoch eingehalten. Keine Spur von Flexibilität; Unfähigkeit, die Vorschrift abzuändern, wenn die Umstände das verlangen; nichts als stures Befolgen einer Regel, für die in dem entsprechenden Augenblick jegliche logische Begründung fehlte. Da ich den jungen Leuten geraten hatte, doch zu versuchen, ob man denn die Vorschrift nicht ändern könne, erhielt ich einen Telefonanruf von der Verwaltung, in dem mir mitgeteilt wurde, daß ich zum Aufstand geblasen hätte.

170

Eines der dankbarsten Anschauungsobjekte für blindes Befolgen von Vorschriften – ganz gleich, wie unvernünftig sie auch immer sein mögen – ist das Militär. Ein Kollege von mir berichtet ein vorzügliches Beispiel, das den Befehlsgehorsam illustriert: Während er auf Guam im Südpazifik stationiert war, war er immer wieder betroffen durch die Bereitwilligkeit, mit der viele Soldaten auf die Einhaltung ganz offenkundig sinnloser Bestimmungen drangen. Im Freilichtkino durften die Offiziere auf überdachten roten Bänken sitzen. Während der Mitternachtsvorstellung, die nie von Offizieren besucht wurde, hatte ein Soldat den Auftrag, sicherzustellen, daß sich niemand auf den roten Bänken niederließ. Also konnte man jeden Abend eine Schar Marinesoldaten im Regen sitzen sehen, während einer der Ihren eine Reihe verlassener roter Bänke bewachte, um zu gewährleisten, daß die Vorschrift auch befolgt würde. Als mein Kollege sich erkundigte, warum man denn auf einer so absurden Maßnahme beharre, erhielt er die Standardantwort: «Ich habe die Vorschrift nicht gemacht, ich sehe nur zu, daß sie eingehalten wird.»

Hermann Hesse sagt in «Demian»:

«Wer zu bequem ist, um selber zu denken und selber sein Richter zu sein, der fügt sich eben in die Verbote, wie sie nun einmal sind. Andere spüren selber Gebote in sich, ihnen sind Dinge verboten, die jeder Ehrenmann täglich tut, und es sind ihnen andere Dinge erlaubt, die sonst verpönt sind. Jeder muß für sich selber stehen.»[8]

Wenn Sie sich genötigt fühlen, jederzeit alle Regeln zu befolgen, dann wartet ein Leben emotionaler Knechtschaft auf Sie. Unsere Kultur lehrt freilich, daß es ungezogen sei, nicht zu gehorchen und gegen die Regeln zu verstoßen. Deshalb kommt es darauf an, für sich selbst zu unterscheiden, welche Vorschriften sinnvoll und zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Welt notwendig sind, und welche ohne Schaden für Sie und andere übertreten werden können. Rebellion um ihrer selbst willen zahlt sich nicht aus; aber sein eigener Mensch sein und sein Leben nach eigenen Maßstäben leben, bringt reichen Lohn.

171

Setzen Sie sich gegen sinnlose Konventionen zur Wehr

Aller Fortschritt, Ihr persönlicher wie der der Welt, hängt von unbotmäßigen Menschen ab, nicht von Leuten, die sich an ihre Umwelt anpassen und alles hinnehmen, wie es kommt. Der Fortschritt ist auf einzelne angewiesen, die die Konventionen mißachten und sich ihre eigene Welt schaffen. Um vom bloßen «über die Runden kommen» zum eigenen Handeln überzugehen, müssen Sie lernen, sich gegen die Enkulturation und die zahlreichen Anpassungszwänge zur Wehr zu setzen. Widerstand gegen den Enkulturationsprozeß ist beinah die Grundvoraussetzung, um voll und unbehindert leben zu können. Manche mögen Sie deswegen als aufmüpfig ansehen: das ist der Preis, den Sie für eigenständiges Denken bezahlen müssen. Man wird Sie vielleicht als sonderbar betrachten, Sie selbstsüchtig oder aufrührerisch nennen; viele «normale» Leute werden Sie mißbilligen, und gelegentlich werden Sie ganz allein dastehen. Einige werden für Ihr Abweichen von den Normen, die sie selbst verinnerlicht haben, nicht viel übrig haben. Sie werden das alte Argument zu hören bekommen: «Wie, wenn alle anfangen wollten, sich nur an die Regeln zu halten, die ihnen passen? Wie würde unsere Gesellschaft denn dann aussehen?» Die einzige Antwort ist natürlich, daß eben nicht jeder das beschließen wird! Ihr Hang zu äußeren Stützen und Soll-Vorschriften verbietet der Mehrzahl der Menschen eine solche Haltung.

Mit Anarchie hat das, wovon wir hier sprechen, nichts zu tun. Niemand will die bestehende Gesellschaftsordnung zerstören; viele von uns möchten dem einzelnen jedoch innerhalb der Gesellschaft einen größeren Freiraum verschaffen – Freiheit von sinnlosen «Muß»- und unvernünftigen «Soll»-Vorschriften.

Selbst einsichtige Gesetze und Regeln können nicht unter allen Umständen gültig sein. Wir bemühen uns um Wahlfreiheit, das heißt um die Möglichkeit, uns von der Sklavenmentalität, die ständige Abhängigkeit von den Solls meint, zu befreien. Sie brauchen nicht mit Ihrem Verhalten stets die Erwartungen zu erfüllen, die die Umwelt an Sie stellt. Tun Sie das dennoch und fühlen Sie sich dabei unfähig, sich anders zu verhalten, dann gehören Sie in der Tat zu den Gefolgsleuten, zur Herde derer, die sich von anderen die Richtung vorschreiben lassen. Sein Leben selbst zu führen verlangt Flexibilität und wiederholtes 172persönliches Überprüfen, wieweit eine Vorschrift im besonderen gegenwärtigen Augenblick zweckdienlich ist. Sicher ist es oftmals leichter, sich führen zu lassen, blindlings zu tun, was man Sie heißt; aber sobald Sie einmal eingesehen haben, daß die Gesetze dazu da sind, Ihnen zu dienen und nicht, um Sie zum Diener zu machen, können Sie auch darangehen, Ihr Musterbationsverhalten zu bekämpfen.

Wenn Sie lernen wollen, dem Enkulturationsvorgang Widerstand entgegenzusetzen, werden Sie sich oft auf ein kühles Achselzucken verlegen müssen. Andere werden nach wie vor den Gehorsam wählen, selbst wenn es ihnen schadet, so daß Sie sich daran gewöhnen müssen, ihnen ihren Willen zu lassen. Kein Ärger; nur eigene Überzeugungen. Ein Kollege von mir war gerade in der Marine und an Bord eines Flugzeugträgers mit Heimathafen in San Francisco stationiert, als Präsident Eisenhower auf einer politischen Rundreise nach Nordkalifornien kam. Die Soldaten bekamen Befehl, in menschlicher Formation die Wörter «HI IKE» (Hallo Ike) darzustellen, so daß der Präsident von seinem Helikopter aus herunterschauen und den Willkommensgruß sehen könnte. Mein Freund fand die Idee geistesgestört und er beschloß, nicht mitzumachen, weil das Vorhaben allem ins Gesicht schlug, was er vertrat. Anstatt eine Revolte zu inszenieren, machte er sich jedoch einfach für den Nachmittag davon und ließ die anderen ruhig an diesem erniedrigenden Ritual teilnehmen. Er verpaßte zugleich seine einzige Chance, das Tüpfelchen auf dem i in «Hi» zu sein. Kein Herabsetzen derer, die sich anders entschlossen hatten; kein unnötiger Kampf, bloß mit den Achseln zucken und andere ihren eigenen Weg gehen lassen.

Dem Enkulturationsprozeß Widerstand leisten heißt, selbst Entscheidungen zu treffen und sie so wirkungsvoll und unauffällig wie möglich auszuführen. Kein eilfertiger Applaus oder feindselige Demonstrationen, wo sie nicht am Platze sind. Die unvernünftigen Regeln, Traditionen und Vorgehensweisen werden nie verschwinden – aber Sie brauchen sie nicht mitzumachen. Zucken Sie nur mit den Achseln, wenn die anderen in der Schafherde mitlaufen. Wenn sie sich so benehmen wollen, in Ordnung; aber für Sie selber ist das nichts. Viel Lärm machen ist so gut wie immer der sicherste Weg, Zorn auf sich zu ziehen und sich neue Hindernisse in den Weg zu legen. Bei alltäglichen Vorfällen werden Sie immer wieder finden, daß es einfacher ist, die 173Regeln in aller Stille zu umgehen, als großartig zu protestieren. Sie können sich entscheiden, entweder der Mensch zu sein, der Sie selbst sein wollen, oder der, den andere sich wünschen. Die Wahl liegt ganz bei Ihnen.

Praktisch alle neuen Ideen, die zur Veränderung unserer Gesellschaft geführt haben, sind zunächst einmal verächtlich gemacht worden. Viele waren überdies ungesetzlich. Fortschritt bedeutet immer auch einen Angriff auf alte Gesetze, die ihre Gültigkeit verloren haben. Die Leute haben sich so lange über einen Edison, Henry Ford, Einstein und über die Brüder Wright lustig gemacht, bis sie Erfolg hatten. Auch Sie werden mitleidiges Lächeln ernten, wenn Sie anfangen, sinnlosen Maßnahmen Widerstand zu leisten.

Typische Zwangsrituale

Sämtliche hierhergehörenden Verhaltensweisen darzustellen würde ein ganzes Buch füllen. Was Sie weiter unten finden, stellt nur eine Auswahl der verbreitetsten Varianten dieser Verhaltensweisen dar, so wie sie in unserer Gesellschaft auftreten.

Ein Blick auf die gebräuchlichen Gewinne der Musterbation

Einige der Gründe, aus denen Sie an Ihren Solls festhalten, finden Sie weiter unten aufgeschlüsselt. Wie in allen seelischen Problemzonen wirken auch hier die Entschädigungen zum größten Teil selbstzerstörerisch; nichtsdestoweniger bilden sie jedoch ein gewisses Stützsystem eigener Art.

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Ein paar Strategien zur Beseitigung Ihrer Solls

Wenn Sie in dieser Zone tatsächlich etwas ändern wollen, besteht die Plackerei vor allem im Eingehen von Risiken. Handeln! Es ist richtig, bestimmte anerzogene Inhalte zu verwerfen, wenn diese Lehren sich für Sie als untauglich erweisen. Hier folgen ein paar Taktiken, die Ihnen dabei helfen sollen, Ihre Musterbationsgewohnheiten abzustreifen.

Bauen Sie auf sich selbst und nicht auf Ihre Solls

Ralph Waldo Emerson schrieb 1838 in «Literary Ethics»: «Da rackern sich die Menschen unermüdlich in der Mühle der Gemeinplätze ab, und doch erwächst daraus nichts, was nicht zuvor schon dagewesen wäre. In dem Augenblick jedoch, in dem sie sich um eines spontanen Gedankens willen von der Tradition abwenden, strömen ihnen Poesie, Geist, Hoffnung, Tugend, Gelehrsamkeit und Anekdoten alle hilfreich zu.»

Was für ein schöner Gedanke. Bleib bei der Tradition und du kannst sichergehen, daß du immer der gleiche bleiben wirst; wirf sie aber beiseite, und schon hältst du die ganze Welt in Händen, um sie nach deinem Willen schöpferisch zu gestalten. Machen Sie sich selbst zum Richter Ihres Verhaltens! Suchen Sie die Antwort nicht länger in einem Leben voller Taktik und Traditionen!

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VIII.
Die Gerechtigkeitsfalle

Wenn die Welt so eingerichtet wäre, daß alles immer gerecht zugehen müßte, dann könnte kein Lebewesen auch nur einen einzigen Tag überleben. Den Vögeln wäre es nicht mehr erlaubt, Würmer zu fressen, und jedermanns Eigeninteresse wäre Genüge zu tun.

Wir sind dazu erzogen, im Leben nach Gerechtigkeit zu suchen, und wo wir sie nicht finden, reagieren wir leicht mit Zorn, Angst und Frustration. Übrigens wäre es etwa genauso vielversprechend, auf die Suche nach dem Jungbrunnen oder einer ähnlichen Legende zu gehen. Gerechtigkeit gibt es nicht. Das war von jeher so und wird niemals anders sein. Dafür ist die Welt einfach nicht eingerichtet. Rotkehlchen fressen Regenwürmer. Das ist unfair den Würmern gegenüber. Spinnen fressen Fliegen. Das ist unfair gegenüber den Fliegen. Pumas fressen Kojoten. Kojoten fressen Dachse. Dachse fressen Mäuse. Mäuse fressen Insekten … Es genügt, sich in der Natur umzusehen, um zu erkennen, daß es auf der Welt nicht gerecht zugeht. Tornados, Überschwemmungen, Flutwellen, Dürren sind alle ungerecht. Eine mythologische Vorstellung, diese ganze Sache mit der Gerechtigkeit. Die Welt und die Menschen auf der Welt sind jeden Tag aufs neue ungerecht. Sie haben es in der Hand, Glück oder Unglück zu wählen; mit dem Mangel an Gerechtigkeit, den Sie rings um sich wahrnehmen, steht das jedoch in keinem Zusammenhang.

Das ist keine griesgrämige Sicht der Menschheit und der Welt, sondern eher eine realistische Darstellung, wie es auf dieser Welt zugeht. Der Begriff der Gerechtigkeit läßt sich praktisch nirgendwo anwenden, am allerwenigsten dort, wo es um Ihre Entscheidung für Erfüllung und Glück geht. Allzu viele Leute neigen jedoch der Forderung zu, unseren menschlichen Beziehungen müsse Fairness ganz selbstverständlich zugrunde liegen. «Das ist ungerecht!», «Du hast gar kein Recht, das zu tun, wenn ich es nicht auch tun darf» und «Würde 185ich mich dir gegenüber so benehmen?» – das sind die Wendungen, die wir gebrauchen. Wir streben nach Gerechtigkeit und benützen ihr Fehlen als Rechtfertigung für unser Unglücklichsein. Die Forderung nach Gerechtigkeit ist nicht an sich schon neurotisch; sie wird erst dann zur seelischen Problemzone, wenn Sie sich jedesmal mit einem negativen Gefühl bestrafen, wenn es Ihnen nicht gelingen will, Beweise für das Vorhandensein der von Ihnen so fruchtlos geforderten Gerechtigkeit zu entdecken. Das selbstschädigende Verhalten besteht also nicht im Verlangen nach Gerechtigkeit, sondern in der inneren Lähmung, die die «ungerechte Wirklichkeit» bei Ihnen auslöst.

Die Gesellschaft verspricht uns Gerechtigkeit. In keiner Wahlrede lassen die Politiker sie aus. «Wir brauchen Gleichheit und Gerechtigkeit für alle!» Aber Tag für Tag oder vielmehr Jahrhundert für Jahrhundert dauert die Abwesenheit von Gerechtigkeit schon an. Durch die Generationen bestehen Armut, Krieg, Seuchen, Verbrechen, Prostitution und Morde im öffentlichen wie im privaten Leben weiter. Und wenn die Geschichte der Menschheit uns Anhaltspunkte liefert, dann wird sich daran auch nichts ändern.

Ungerechtigkeit ist eine Grundtatsache – aber Sie, im Besitz Ihres gewaltigen neuen Wissens, können den Beschluß fassen, dagegen anzukämpfen und sich durch die Ungerechtigkeit der Welt nicht zu gefühlsmäßiger Unbeweglichkeit verführen zu lassen. Sie können beim Ausmerzen der Ungerechtigkeit mithelfen und sich dafür entscheiden, sich innerlich nicht mehr von ihr zu Fall bringen zu lassen.

Der falsche Sinn für Gerechtigkeit

Die Forderung nach Gerechtigkeit kann Ihre persönlichen Beziehungen unterwandern und Sie an fruchtbarer Kommunikation mit anderen hindern. Die Parole «Das ist ungerecht!» stellt eine der häufigeren – und zerstörerischen – Klagen dar, die einer dem anderen an den Kopf wirft. Um etwas ungerecht zu finden, müssen Sie zunächst einmal Vergleiche zwischen sich und einer anderen Person oder Personengruppe angestellt haben. Ihr Gedankengang läuft dabei etwa so: «Was die dürfen, darf ich auch.» – «Von Rechts wegen darfst du nicht mehr haben als ich.» – «Aber ich bin doch auch nicht dazu gekommen, das zu 186machen, warum solltest du es denn dann machen können?» Und immer so weiter … Was gut ist für Sie, bestimmen Sie unter diesen Umständen an Hand des Verhaltens der anderen. Die anderen sind für Ihre Gefühle zuständig, Sie selber nicht. Wenn Sie sich darüber empören, daß Sie etwas nicht tun können, was andere aber getan haben, dann räumen Sie den anderen damit Macht über sich ein. Jedesmal, wenn Sie sich mit anderen vergleichen, lassen Sie sich auf das «Unfair!»-Spiel ein und wechseln von Vertrauen in sich selbst zu fremdgesteuertem «Außen»-Denken über.

Am Beispiel einer meiner Klientinnen, einer attraktiven jungen Frau namens Julia, läßt sich solches selbstzerstörerisches Denken gut beobachten. Julia klagte über ihre unglückliche, fünf Jahre währende Ehe. Eines Abends in der Beratung spielte sie der Gruppe einen ehelichen Streit vor. Sobald der junge Mann, der die Rolle von Julias Versicherungsvertreter-Gatten übernommen hatte, etwas Unangenehmes zu ihr sagte, konterte Julia blitzschnell: «Warum sagst du das? Ich sage so was nie zu dir!» Erwähnte er ihre beiden Kinder, dann erwiderte Julia: «Das ist nicht fair! Ich lasse die Kinder bei einem Streit immer aus dem Spiel.» Als sich ihr Rollenspiel einer voraussichtlichen Abendunterhaltung zuwandte, kam wieder Julias Argument: «Das ist ungerecht. Du gehst die ganze Zeit aus, und ich soll mit den Kindern zu Hause bleiben!»

Julia führte genauestens Buch über alles, was in ihrer Ehe geschah. Wenn ich mich auf die und die Art benehme, mußt du das gefälligst genauso machen. Kein Wunder, daß sie die meiste Zeit gekränkt und verstimmt war und sich mehr darauf konzentrierte, imaginäre Ungerechtigkeiten auszugleichen, als ihre Ehe einmal unter die Lupe zu nehmen und vielleicht zu verbessern.

Julias Streben nach Gerechtigkeit führte sie in eine neurotische Sackgasse. Genauso wie sie das Benehmen ihres Mannes immer vor dem Hintergrund ihres eigenen Benehmens beurteilte, sah sie auch ihr eigenes Wohlbefinden stets in Verbindung mit dem Verhalten ihres Mannes. Gäbe sie ihr fortwährendes Nachtragen auf und begänne, sich ohne Verpflichtung dem anderen gegenüber um die Dinge zu kümmern, die sie sich wünscht, dann würde sich ihre Beziehung grundlegend verbessern.

Fairness ist ein «äußeres» Konzept – eine Methode, das eigene Leben 187nicht selbst steuern zu müssen. Anstatt die Dinge für unfair zu halten, können Sie sich überlegen, was Sie wirklich wollen und dann Strategien ausarbeiten, um das zu erreichen, vollkommen losgelöst vom Handeln und den Wünschen irgendeines anderen Menschen auf der Welt. Als nackte Tatsache bleibt bestehen, daß jeder Mensch anders ist, und all Ihr Murren, andere hätten es besser als Sie, wird Ihnen keinerlei positive Veränderungen Ihrer selbst bringen. Sie werden das Vergleichen aufgeben und die Brille absetzen müssen, durch die Sie ständig das Tun und Lassen der anderen betrachten und beurteilen. Manche Leute arbeiten weniger und verdienen mehr Geld. Andere gelangen durch Vetternwirtschaft nach oben, während Sie über die entsprechenden Fähigkeiten verfügen. Ihr Ehepartner und Ihre Kinder werden es mit vielen Dingen weiterhin anders halten als Sie. Wenn Sie sich jedoch selbst betrachten, anstatt sich mit anderen zu vergleichen, werden Sie keine Gelegenheit mehr finden, über den Mangel an Gleichheit betrübt zu sein, den Sie da beobachten. Im Hintergrund jeder Neurose steht die Überbetonung fremden auf Kosten Ihres eigenen Verhaltens. Wenn Sie die «Wenn er das tun kann, sollte ich es auch tun»-Sätze mit sich herumtragen, richten Sie Ihr Leben nach fremden Gesichtspunkten aus, anstatt sich Ihr eigenes Leben zu schaffen.

Eifersucht: die Gelbsucht der Seele

«Die Gelbsucht der Seele» hat John Dryden, ein englischer Dichter des 17. Jahrhunderts, die Eifersucht genannt. Wenn Eifersucht Ihnen hinderlich wird und gefühlsmäßig Lähmung hervorruft, dann sollten Sie sich die Beseitigung dieses unnützen Denkens zum Ziel setzen. Eifersucht setzt sich im Grunde genommen aus der Forderung, jemand solle Sie auf bestimmte Weise lieben und Ihrer Reaktion «Aber das ist unfair!» zusammen, falls der andere dieser Forderung nicht nachkommt. Als fremdbestimmte Verhaltensweise entsteht sie ebenfalls aus einem Mangel an Selbstvertrauen. Eifersucht macht es möglich, daß fremdes Verhalten Ihnen emotionales Mißbehagen verursacht. Leute, die sich selbst wirklich mögen, wählen keine Eifersucht und lassen sich nicht niederschmettern, wenn ein anderer unfair spielt.

Sie können niemals im voraus wissen, wie jemand, den Sie lieben, auf 188einen anderen Menschen reagieren wird; aber falls er sich für Zuneigung und Liebe entscheidet, werden Sie nur dann lähmende Eifersucht spüren, wenn Sie die Entscheidung des anderen auf sich beziehen. Wenn ein Partner einen anderen liebt, verhält er sich damit nicht «unfair»; er verhält sich einfach bloß. Falls Sie das unfair nennen, werden Sie wahrscheinlich bald auch herauszubekommen versuchen, warum. Das passende Beispiel liefert uns hier eine Klientin von mir, die außer sich geriet, weil ihr Mann eine Affäre hatte. Sie war besessen von dem Gedanken, herauszubekommen warum? «Was habe ich bloß falsch gemacht?», «Stimmt etwas nicht mit mir?» und «War ich nicht gut genug für ihn?» – solche und ähnliche Fragen voller Selbstzweifel stellte sie sich selbst pausenlos. Helga dachte an nichts anderes mehr als an die Ungerechtigkeit, die die Untreue ihres Mannes für sie bedeutete. Sie nahm sich sogar vor, selbst eine Beziehung anzuknüpfen, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Sie weinte viel und schwankte zwischen Wut und Trauer hin und her.

Helgas Denkfehler, aus dem ihr Kummer entsteht, liegt in der Forderung nach Gerechtigkeit, an der sie in ihrer Ehe erstickt. Die Entscheidung ihres Mannes, sich auf eine andere sexuelle Beziehung einzulassen, hat sie zum Anlass genommen, um sich in tiefe Verwirrung zu stürzen. Gleichzeitig benützt sie sein Verhalten als rationale Begründung, um etwas tun zu können, was sie wahrscheinlich schon lange hatte tun wollen, aber immer unterlassen hatte, weil es ungerecht gewesen wäre. Hätte sie selbst als erste eine Affäre begonnen, so hätte Helgas Beharren auf unbedingter Gerechtigkeit bedeutet, daß ihr Mann ihr das hätte vergelten müssen. Helgas Gefühlszustand wird sich nicht bessern, bevor sie eingesehen hat, daß die Entscheidung ihres Mannes unabhängig von ihrer Person gefallen ist, ja daß er für sein sexuelles Abenteuer vielleicht tausend verschiedene eigene Gründe hatte, von denen keiner sie betraf. Vielleicht war er auf Abwechslung aus, vielleicht fühlte er Liebe für jemand anderen außer seiner Frau, vielleicht wollte er seine Männlichkeit unter Beweis stellen oder das Alter in die Schranken weisen. Was auch immer die Ursache gewesen sein mochte – mit Helga hatte sie nichts zu schaffen. Helga ist inzwischen imstande, die Beziehung als die Angelegenheit zweier Menschen und nicht mehr als gegen sich selbst gerichtet anzusehen. Den Schlag hat sie sich selbst beigebracht. Sie steht nun vor der Möglichkeit, sich 189mit ihrer selbstquälerischen Eifersucht, bei der sie sich als weniger wichtig als ihren Mann oder seine Geliebte empfindet, weiterhin zu verwunden oder anzuerkennen, daß ihr Selbstwert durch die Affäre eines anderen nicht angetastet wird.

Stereotype Forderungen nach Gerechtigkeit

Ausnahmslos in allen Bereichen des Lebens läßt sich das Streben nach dem, was «recht und billig» ist, beobachten. Wenn Sie auch nur ein bißchen die Augen aufmachen, sehen Sie die entsprechenden Verhaltensweisen bei sich und anderen in hellen Scharen auftreten. Untenstehend finden Sie einige der gebräuchlicheren Spielarten.

Das war also unser kleiner Erkundungsgang durch die Gerechtigkeitsgasse, wo Sie und die andern alle sich durcheinanderbringen lassen – 191zwar oftmals nur schwache, aber gleichwohl innere Erschütterungen erleiden – durch den untauglichen Satz in Ihrem Kopf, es müsse stets Gerechtigkeit walten.

Gerechtigkeit und Selbsttäuschung

Alle Belohnungen für dieses Verhalten wirken selbsttäuschend, indem sie nämlich Ihr Augenmerk von der Realität weg auf eine Art Traumwelt lenken, die es niemals geben wird. Die häufigsten Gründe für das Beibehalten Ihres «gerechtigkeitsfordernden» Denkens und Verhaltens sind:

Da haben Sie also das psychologische Instandhaltungssystem zur Beibehaltung der Forderung nach Gerechtigkeit. Aber dieses Stützsystem ist nicht unerschütterlich! Weiter unten finden Sie einige strategische Maßnahmen, um solches Denken zu überwinden und die ganze «gerechtigkeitsfordernde» seelische Problemzone zu reinigen.

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Wie man der Gerechtigkeitsfalle entgeht

Das waren ein paar Vorschläge zum Anfang, die Ihnen helfen sollen, sich glücklicher zu fühlen, indem Sie sich von dem Zwang befreien, Vergleiche zu ziehen und den Status der anderen zum Gradmesser Ihres eigenen Wohlbefindens zu machen. Nicht die Ungerechtigkeit ist bedeutsam, sondern was Sie dagegen tun.

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IX.
Das ewige Auf-die-lange-Bank-Schieben

Etwas auf später zu verschieben,
kostet auch nicht einen einzigen Tropfen Schweiß.

Schieben Sie gern Sachen auf die lange Bank, die Sie eigentlich sofort tun sollten? Wenn Sie sich nicht merklich von der Mehrzahl der Leute unterscheiden, lautet die Antwort: ja. Alle Wahrscheinlichkeit spricht jedoch dafür, daß auch Sie lieber ohne diese Angst leben würden, die mit dem Aufschieben als Lebensgrundsatz verbunden ist. Möglicherweise schieben Sie viele Aufgaben vor sich her, die Sie an und für sich schon erledigen möchten, deren tatsächliche Ausführung Sie jedoch aus irgendwelchen Gründen in der Schwebe halten. Mit der ganzen Aufschieberei ist es wahrhaftig ein Kreuz. Falls es Sie richtig erwischt hat, vergeht kaum ein Tag, ohne daß Sie sagen: «Eigentlich sollte ich das ja gleich machen, aber ich werde später dazu kommen.» Ihr «später, später» können Sie nur schwerlich äußeren Instanzen zur Last legen. Diese seelische Problemzone ist ganz und gar Ihre Sache, sowohl das Aufschieben als auch das sich daraus ergebende Unbehagen.

Zaudern ist wahrscheinlich die am weitesten verbreitete seelische Problemzone. Nur ganz wenige können aufrichtig von sich behaupten, keine Zauderer zu sein, obwohl sich das auf Dauer gesehen sehr ungesund auswirkt. Wie bei allen seelischen Problemzonen ist auch hier an dem Verhalten selbst nichts Schädliches. Tatsächlich gibt es ja ein wirkliches Aufschieben nicht einmal. Sie handeln; was Sie nicht erledigen, bleibt in Wirklichkeit eben ungetan – nicht aufgeschoben. Das neurotische Verhalten liegt hier allein in der mit dem Aufschieben einhergehenden gefühlsmäßigen Reaktion und Lähmung. Wenn Sie der Ansicht sind, daß Sie zwar manches aufschieben, sich aber ohne begleitende Schuldgefühle, Ängste und Aufregung in Ihrer Haut wohl 197fühlen, dann halten Sie auf jeden Fall daran fest und überschlagen Sie dieses Kapitel. Die meisten Menschen flüchten sich jedoch nur ins Aufschieben, um nicht mit der Wirklichkeit, ihrer eigenen Gegenwart, konfrontiert zu werden.

Hoffen, Wünschen und «Vielleicht»

Auf drei neurotischen Zauderfloskeln baut sich das Stabilisierungssystem zur Fortführung des Aufschiebeverhaltens auf: «Hoffentlich komme ich damit klar.» – «Eigentlich wünsche ich mir ja nur, daß alles ein bißchen einfacher wird.» – «Vielleicht geht es ja auch so in Ordnung.»

Da haben Sie des Zögerers Wonne. Solange Sie mit dem Zauberwörtchen «vielleicht» operieren, solange Sie hoffen und wünschen, können Sie das alles als vernünftige Erklärung dafür vorschieben, warum Sie im jeweiligen Augenblick nichts tun. Wünschen und Hoffen ist sämtlich Zeitverschwendung – Narretei von Schlaraffenlandbewohnern! Durch kein noch so inbrünstiges Wünschen oder Hoffen ist je irgend etwas zustande gebracht worden. Es handelt sich dabei bloß um bequeme Ausweichmanöver, um nicht die Ärmel aufkrempeln und die Dinge in Angriff nehmen zu müssen, die Sie doch immerhin für wichtig genug erachtet haben, um sie überhaupt in Ihr Leben aufzunehmen.

Alles, was Sie sich vornehmen, können Sie auch ausführen, Sie sind stark, leistungsfähig und keineswegs zerbrechlich. Mit dem Verschieben auf später geben Sie jedoch Ihrem Wunsch, auszuweichen, Ihren Selbstzweifeln, und was am bedeutsamsten ist, der Selbsttäuschung nach. Durch diese seelische Problemzone entfernen Sie sich vom Ziel, im Jetzt und Hier stark zu sein und wenden sich statt dessen der bloßen Hoffnung zu, daß irgendwann einmal in der Zukunft alles besser wird.

Untätigkeit als Lebensprinzip

In Ihren gegenwärtigen Augenblicken kann ein Satz wie der folgende lähmend wirken: «Erst mal abwarten, das wird schon besser!» Für manche wird daraus eine Lebensform: sie verschieben unablässig auf 198einen Tag, der aber niemals anbrechen wird.

Martin, der vor kurzem als Klient zu mir kam, beklagte sich über seine unglückliche Ehe. Er war in den Fünfzigern und schon beinahe dreißig Jahre lang verheiratet. Sobald wir anfingen, über seine Ehe zu sprechen, wurde deutlich, daß Martins Unlustgefühle nicht eben erst entstanden waren. «Im Grunde war's ja nie was Ordentliches, nicht mal am Anfang», sagte er einmal. Ich fragte ihn, warum er denn dann so viele traurige Jahre lang ausgehalten hätte. «Ich habe immer gehofft, es würde besser», bekannte er. Nach fast dreißig Jahre währender Hoffnung steckten Martin und seine Frau jedoch immer noch in der gleichen Misere.

Als wir über Martins Leben und seine Ehe sprachen, kam er schließlich auch mit der Geschichte seiner Impotenz heraus, die mindestens ein Jahrzehnt zurückreichte. Ob er denn wegen dieses Problems niemals Hilfe gesucht hätte, fragte ich. Nein, er hatte nur eben Sex mehr und mehr gemieden und gehofft, daß das Problem von alleine verschwinden würde. «Ich war mir sicher, daß es besser würde», erklang sein eigenes Echo auf den vorherigen Kommentar.

Martin und seine Ehe sind ein klassischer Fall von extremem Beharrungsvermögen. Martin umging seine Probleme und rechtfertigte sein Verhalten mit den Worten: «Wenn ich abwarte und gar nichts tue, wird sich alles vielleicht von selbst erledigen.» Aber er mußte erfahren, daß sich nichts von allein erledigt. Es bleibt genauso, wie es ist. Die Dinge verändern sich allenfalls, nur besser werden sie nicht. «Es» – Umstände, Situationen, Ereignisse, Menschen – wandelt sich nicht von allein zum Guten. Sind Sie mit Ihrem Leben jetzt zufriedener, dann deswegen, weil Sie konstruktive Schritte unternommen haben, um es zu ändern und zu verbessern.

Lassen Sie uns diese Verhaltensweise, ständig alles aufzuschieben, und das Verfahren, wie man es durch ein paar recht unkomplizierte Entschlüsse beseitigen kann, etwas genauer unter die Lupe nehmen. Eine solche seelische Problemzone können Sie ohne allzuviel anstrengende «Denkarbeit» ausräumen, da Sie sie ganz allein geschaffen haben, ohne die kulturelle Verstärkung, die für so viele andere seelische Problemzonen kennzeichnend ist.

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Die Funktion des Aufschiebens

Donald Marquis hat das Aufschieben einmal «die Kunst, sich auf dem gestrigen Stand zu halten» genannt. Dem möchte ich hinzufügen: «... und das Heute zu umgehen». Das Ganze läuft etwa folgendermaßen ab: Sie möchten eigentlich dies und jenes tun, und zwar nicht, weil es Ihnen von anderen aufgetragen worden ist, sondern aus eigenem bewußten Entschlusse. Vieles davon bleibt jedoch für immer ungetan, obwohl Sie sich selbst einreden, daß Sie das alles noch anpacken wollen. Indem Sie sich vornehmen, etwas, was Sie sehr gut jetzt tun könnten, ein andermal zu erledigen, schaffen Sie sich einen passablen Ersatz für die eigentliche Handlung. Dieser Ersatz erlaubt Ihnen sogar, sich in der Selbsttäuschung zu wiegen, Sie schadeten sich nicht wirklich, wenn Sie etwas unterlassen, was Sie an und für sich beginnen wollten. Ein hilfreiches System, das ungefähr so funktioniert: «Ich weiß ja schon, daß ich das machen muß, aber ich habe doch Angst, ich könnte es vielleicht nicht gut oder nicht gern machen. Deswegen sage ich mir, daß ich später darangehen werde, dann brauche ich nämlich vor mir selbst nicht zuzugeben, daß ich es ganz und gar lassen will. Und außerdem ist es auf diese Art leichter, mit mir selbst auszukommen.» So also sieht die trügerische, wenn auch bequeme Argumentation aus, die Sie immer dann ins Spiel bringen, wenn Sie vor der Situation stehen, etwas Unangenehmes oder Schwieriges tun zu müssen.

Wenn Sie heute auf bestimmte Art leben, aber beteuern, in Zukunft ganz anders leben zu wollen, dann hat das überhaupt nichts zu sagen. Sie sind schlicht und einfach ein Mensch, der unaufhörlich nur vertagt und die Dinge, die er eigentlich tun will, nie fertigbringt.

Selbstverständlich gibt es verschiedene Grade des Hinauszögerns. Es ist möglich, eine Tätigkeit bis zu einem bestimmten Punkt vor sich herzuschieben und sie dann fünf Minuten vor zwölf doch noch zu machen. Auch hierbei haben wir es wieder mit einer gebräuchlichen Form der Selbsttäuschung zu tun. Wenn Sie sich nur das reine Zeitminimum gönnen, um eine Arbeit durchzuführen, dann können Sie auch ein liederliches Ergebnis oder eine nicht ganz erstklassige Leistung rechtfertigen, indem Sie sich selbst vorsagen: «Ich habe halt viel zuwenig Zeit gehabt!» In Wirklichkeit haben Sie reichlich Zeit. Und wie Sie wissen, Leute mit Energie bringen auch meistens etwas zustande. 200Wenn Sie jedoch unausgesetzt nur darüber klagen, was Sie alles zu tun hätten (Hinauszögern), dann fehlt Ihnen im Augenblick auch tatsächlich die Zeit, etwas davon zu tun.

Einmal hatte ich einen Kollegen, der ein wahrer Aufschubspezialist war. Stets hatte er alle Hände voll zu tun, seinen Geschäften nachzujagen und anderen zu erzählen, wieviel er um die Ohren habe. Wenn er redete, machte allein die Vorstellung, in welchem Tempo sein Leben ablief, die Zuhörer schon müde. Aber beim genauen Hinsehen zeigte sich, daß mein Kollege in der Tat nur sehr wenig bewerkstelligte. Zwar verfolgte er im Geiste eine Unmenge von Projekten, doch fand er nie die Zeit, auch nur an einem einzigen ernsthaft zu arbeiten. Ich stelle mir vor, daß er sich jeden Abend vor dem Einschlafen wieder mit dem Versprechen täuschte, daß er diese oder jene Angelegenheit morgen ganz bestimmt zu Ende führen würde. Wie sonst hätte er noch mit intaktem Selbsttäuschungssystem Schlaf finden können? Möglich, daß er selbst einsah, daß er sein Vorhaben wieder nicht verwirklichen würde; aber solange er es nur immer wieder gelobte, waren seine gegenwärtigen Augenblicke wenigstens sicher.

Sie sind nicht unbedingt das, was Sie zu sein vorgeben. Viel besser als Worte zeigt Ihr Verhalten, wer Sie sind. Nur an dem, was Sie in Ihren gegenwärtigen Augenblicken tun, läßt sich ablesen, wer Sie als Mensch sind. Emerson hat geschrieben:

«Mach keine Worte. Was du bist, hängt währenddem wie Donnergrollen über dir, so daß ich dich nicht hören kann, wenn du mir das Gegenteil erzählst.»

Rufen Sie sich das nächste Mal, wenn Sie ankündigen: «Ich werde das erledigen», obwohl Sie genau wissen, daß Sie es doch nicht tun werden, diese Worte ins Gedächtnis. Sie wirken als Gegenmittel gegen das Aufschieben.

Langeweile – eine Folge des Aufschiebens

Das Leben selbst ist niemals langweilig; trotzdem wollen manche sich langweilen. Schon allein die Idee der Langeweile führt zur Unfähigkeit, die Gegenwart intensiv zu erleben und persönlich ausgefüllt zu sein. Langeweile ist ein Zustand, für den Sie sich entscheiden, den Sie sich 201selbst auferlegen und ein weiterer in der Reihe der selbstschädigenden Problemzonen, die Sie lieber aus Ihrem Leben entfernen sollten. Wenn Sie aufschieben, setzen Sie der Möglichkeit, sich in Ihren gegenwärtigen Augenblicken mit diesem oder jenem zu beschäftigen, die Alternative des Nichtstuns entgegen. Nichtstun führt zu Langeweile. Nun besteht allgemein die Tendenz, seine Langeweile der Umwelt anzulasten. «Diese Stadt ist aber wirklich öde!», oder: «So wie der spricht, da schläft man ja ein!» Der jeweilige Redner oder die betreffende Stadt sind jedoch beileibe nicht langweilig: Sie sind derjenige, der die Langeweile verspürt; Sie allein können sie auch vertreiben, indem Sie im gegebenen Aufenblick mit Ihrem Denken und Ihrer Energie etwas anderes anfangen.

Schon im 17. Jahrhundert hat der englische Dichter Samuel Butler bemerkt: «Wer sich langweilen läßt, ist noch viel jämmerlicher als der Langweiler selbst.» Wenn Sie das, was Sie tun wollen, jetzt gleich anpacken oder Ihren Geist noch in diesem Augenblick auf neue kreative Weise arbeiten lassen, können Sie sicherstellen, daß Sie niemals mehr Langeweile wählen. Die Entscheidung liegt auch hier – wie stets – bei Ihnen.

Dinge, die man meistens vor sich herschiebt

Hier folgen ein paar Bereiche, in denen es viel leichter fällt, sich anstatt fürs Handeln fürs Aufschieben zu entscheiden.

Gründe, auch weiterhin aufzuschieben

Die rationale Erklärung für das Aufschieben besteht zu einem Teil aus Selbsttäuschung und zum anderen, dem erheblich größeren Teil, aus Fluchtimpulsen. Hier sind die wichtigsten Belohnungen für das Festhalten am Aufschieben:

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Nun, da Sie ein wenig besser verstehen, warum Sie gewisse, was nicht heißt wenige Dinge, aufschieben, können Sie darangehen, die Beseitigung dieser selbstzerstörerischen seelischen Problemzone ins Werk zu setzen.

Handeln, anstatt nur zu klagen

Beklagen Sie sich nicht, weil Sie die Welt lieber anders hätten! Tun Sie etwas. Anstatt in Ihrem Jetzt und Hier gelähmt vor Angst auf die Dinge zu starren, die Sie aufgeschoben haben, übernehmen Sie die Verantwortung für diese häßliche seelische Problemzone und leben Sie jetzt! Leben Sie nicht in Wünschen, Hoffnungen oder Kritikastereien, sondern im Handeln.

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X.
Demonstrieren Sie Ihre Unabhängigkeit!

In jedem Verhältnis, in dem zwei Menschen eins werden,
ist das Endergebnis zwei halbe Menschen.

Eine der mühseligsten Aufgaben unseres Daseins ist das Ausfliegen aus dem Nest. An allzu vielen Stellen hat sich die Abhängigkeitsviper in unserem Leben eingenistet; sie überall aufzustöbern wird noch durch die Tatsache erschwert, daß viele die innere Abhängigkeit eines anderen zu ihren Gunsten ausnutzen. Psychische Unabhängigkeit heißt, jeglicher verpflichtender Beziehungen ledig und von fremdgeleitetem Verhalten frei zu sein. Es bedeutet, sich zu keiner Zeit genötigt sehen, etwas zu tun, was man ohne eine bestimmte Beziehung zu einem anderen nicht auch tun würde. Die Sache mit dem Flüggewerden ist deshalb besonders heikel, weil die Gesellschaft uns lehrt, in speziellen Beziehungen wie denen zu Eltern, Kindern, Autoritätspersonen und Menschen, die wir lieben, bestimmte Erwartungen zu erfüllen.

Das Nest zu verlassen heißt, ein Mensch für sich zu werden und sich so zu verhalten, wie es den eigenen Wünschen entspricht. Es bedeutet keineswegs, allen Verkehr abzubrechen. Angenommen, der Umgang mit einem anderen Menschen macht Ihnen Freude und steht Ihren Zielen nicht im Wege, dann halten Sie ihn lieb und wert und ändern Sie nichts daran. Innerlich abhängig sind Sie dagegen, wenn Sie in einer Beziehung stehen, in der es freie Entscheidung nicht gibt; in einer Beziehung, in der Sie verpflichtet sind, etwas zu sein, was Sie gar nicht sein wollen, so daß Sie auf das Ihnen aufgezwungene Betragen mit Ressentiments reagieren. Hier liegt der innerste Kern dieser seelischen Problemzone, der mit der in Kapitel III behandelten Bestätigungssuche eng verwandt ist. Es ist keineswegs ungesund, mit anderen Menschen Beziehungen unterhalten zu wollen. Wenn Sie jedoch von einer 210Beziehung abhängig sind oder wenn sie Ihnen aufgezwungen worden ist, so daß Sie darüber nurmehr Groll empfinden, dann bewegen Sie sich auf selbstschädigendem Terrain. Nicht die Beziehung an sich stellt also das Problem dar, sondern die dazu bestehende Verpflichtung. Sich verpflichtet fühlen zieht Schuldgefühle und Abhängigkeit nach sich, während freie Wahl Liebe und Unabhängigkeit fördert. In einem seelischen Abhängigkeitsverhältnis kann von freier Wahl nicht mehr die Rede sein. Folglich wird es in einer solchen Verbindung unweigerlich Aufbegehren und böses Blut geben.

Innere Unabhängigkeit besteht darin, auf andere nicht angewiesen zu sein. «Angewiesen», wohlgemerkt, nicht «wollen»! In dem Moment nämlich, in dem Sie auf andere Menschen angewiesen sind, werden Sie verletzlich, zum Sklaven. Sollte der Mensch, auf den Sie angewiesen sind, weggehen, sich anders entscheiden oder sterben, dann führt für Sie kein Weg an innerer Lähmung oder am Zusammenbruch vorbei. Indessen lehrt uns die Gesellschaft, von einem ganzen Rattenschwanz von Leuten, bei den Eltern angefangen, abhängig zu sein. Womöglich halten Sie in vielen für Sie bedeutsamen Beziehungen immer noch die Hände auf, um zu bekommen, was Sie suchen. Solange Sie das Gefühl haben, etwas nur deshalb tun zu müssen, weil es in einer bestimmten mitmenschlichen Beziehung von Ihnen erwartet wird; solange Sie mit Ressentiments reagieren, wenn Sie diesen Erwartungen nachkommen und mit Schuldgefühlen, sobald Sie es unterlassen – solange haben Sie sich unter diejenigen zu zählen, für die es gilt, sich dieser seelischen Problemzone zu stellen.

Das Beseitigen innerer Abhängigkeit fängt bei Ihrer Familie an, bei der Art, wie Ihre Eltern Sie als Kind behandelt haben und wie Sie heute mit Ihren eigenen Kindern umgehen. Wie viele innere Maximen, die Abhängigkeitsverhältnisse unterstützen, tragen Sie immer noch mit sich herum? Wie viele zwingen Sie Ihren Kindern auf?

Abhängigkeiten in Kindererziehung und Familie

Vor einigen Jahren hat Walt Disney einen wunderschönen Film mit dem Titel «Das Land der Bären» gemacht. Er zeigte eine Bärenmutter mit ihren beiden Jungen in deren ersten Lebensmonaten. Die Bärenmutter lehrte ihre Jungen Jagen, Fischen und auf Bäume klettern. Sie 211brachte ihnen bei, wie sie sich bei Gefahr selbst schützen können. Dann jedoch beschloß sie eines Tages, aus ihren eigenen, instinktiven Gründen heraus, daß jetzt Zeit zum Abschiednehmen sei. Sie trieb die Jungen Hals über Kopf einen Baum hinauf und ging selbst davon, ohne sich auch nur umzusehen. Für immer! Ihrer «Bärenmeinung» nach waren ihre elterlichen Verpflichtungen jetzt erfüllt. Sie unterließ jeden Versuch, die Jungen dazu zu überreden, sie abwechselnd sonntags zu besuchen. Sie bezichtigte sie weder der Undankbarkeit, noch drohte sie mit einem Nervenzusammenbruch für den Fall, daß sie sie enttäuschen sollten. Sie ließ sie einfach gehen. Überall im Tierreich bedeutet Elternschaft, den Nachkommen die zur Unabhängigkeit nötigen Fertigkeiten beizubringen und sich dann von ihnen zu trennen. Dieser Instinkt ist bei uns Menschen noch der gleiche; das neurotische Bedürfnis aber, seine Kinder zu besitzen und sein eigenes Leben durch sie leben zu wollen, scheint auf der anderen Seite immer mehr überhand zu nehmen. Das Ziel, ein Kind zur Selbständigkeit zu erziehen, wird verkehrt in den Gedanken, es großzuziehen, um sich an ihm festzuklammern.

Was wünschen Sie sich für Ihre Kinder? Sähen Sie sie gern voller Selbstachtung und Selbstvertrauen, frei von Neurosen, erfüllt und glücklich? Ja, natürlich wäre Ihnen das lieb. Was aber können Sie dafür tun? Ganz einfach: selbst so sein. Kinder lernen aus dem Verhalten ihrer Vorbilder. Sie führen Ihre Kinder hinters Licht, wenn Sie selbst voller Schuldgefühle stecken und in Ihrem Leben unerfüllt sind, ihnen jedoch einbleuen, ganz anders zu werden. Wenn Sie ihnen Ihre niedrige Selbsteinschätzung vorleben, unterweisen Sie Ihre Kinder darin, die gleiche Haltung einzunehmen. Und was noch schwerer wiegt: Ihren Kindern ist keineswegs gedient, wenn Sie sie wichtiger nehmen als sich selbst; sie lernen dadurch bloß, anderen immer den Vortritt zu lassen, unerfüllt zu bleiben und sich mit dem zweiten Platz zu begnügen. Was für eine Ironie! Sie können Ihren Kindern Selbstvertrauen nicht einfach in die Hand drücken; die Kinder müssen es selbst aufbauen, indem sie sich nach Ihrem Beispiel richten. Nur wenn Sie sich selbst als den wichtigsten Menschen behandeln und sich nicht fortwährend für Ihre Kinder aufopfern, können Sie sie lehren, auf sich selbst zu vertrauen und an sich selbst zu glauben. Wenn Sie sich aufopfern, leben Sie Aufopferung vor. Und was heißt Aufopferung? Andere immer vorgehen 212lassen, sich selbst nicht mögen, nach Bestätigung streben und anderes fehlgeleitetes Verhalten. Es kann bewundernswert sein, sich für andere einzusetzen; sobald das jedoch auf Kosten Ihrer selbst geht, lehren Sie die Kinder nur das gleiche, Ressentiments nach sich ziehende Verhalten.

Kinder wollen von Anfang an alles selbst machen. «Ich kann das allein!» – «Schau mal, Mammi, ich kann das ganz ohne Hilfe!» – «Ich möchte allein essen!» Ein Signal folgt dem anderen. Und obwohl in den ersten Lebensjahren ein hohes Maß an Abhängigkeit besteht, tritt ihr schon fast vom ersten Tag an das merkliche Drängen auf Unabhängigkeit zur Seite.

Als Vierjährige wird die kleine Regina stets zu Mutti und Vati gelaufen kommen, wenn sie sich weh getan hat oder aus irgendeinem Grund emotionale Unterstützung braucht. Sie trägt ihr Herz auf der Zunge, wenn sie acht oder zehn Jahre alt ist. Obwohl sie als großes Mädchen gelten möchte – «Ich knöpfe mir meinen Mantel ganz allein zu!» –, will sie doch gleichzeitig auch den Rückhalt liebevoller Eltern. – «Schau, Mami, mein Kratzer da am Knie, und jetzt blutet er!» Ihr Selbstbild formt sich nach der Sichtweise ihrer Eltern und anderer für ihr Leben bedeutsamer Erwachsener. Eines Tages ist Regina vierzehn. Weinend kommt sie von einem Streit mit ihrem Freund nach Haus, rennt in ihr Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Mama kommt herauf und bittet Regina in ihrer typischen besorgten Art, mit ihr darüber zu sprechen. Aber jetzt bekommt sie in bestimmtem Ton zu hören: «Ich will nicht darüber reden, laß mich.» Anstatt daß Mama in dieser kleinen Szene den Beweis dafür erkennen könnte, daß sie als Mutter gute Arbeit geleistet hat und daß die kleine Regina, die alle Probleme stets mit ihr besprochen hat, jetzt allein damit fertig zu werden versucht – emotionale Unabhängigkeit –, ist sie betrübt. Sie ist nicht bereit, Regina so weit frei zu geben, daß das Mädchen selbständig mit der Sache zurechtkommen könnte. Für sie ist Regina noch immer das hilfsbedürftige kleine Mädchen, wie vor nicht allzu langer Zeit. Sollte Mama nun auf ihrer Forderung beharren und «Druck dahinter machen», dann muß sie damit rechnen, daß Regina ihr das ernstlich übelnehmen wird.

Kinder haben ein starkes Bedürfnis danach, das Nest zu verlassen; wenn allerdings Besitzergreifen und Opferbringen die Grundlage des 213Familienlebens bilden, dann entsteht leicht eine Krise aus dem natürlichen Vorgang des Abschiednehmens. In einer seelisch gesunden Atmosphäre flügge zu werden, bringt weder Krisen noch Erschütterungen mit sich; es ist die natürliche Folge geglückten Lebens. Haben demgegenüber Schuldgefühle und Angst den Ablösungsprozeß bestimmt, dann dauern sie das ganze weitere Leben fort, manchesmal bis zu dem Punkt, an dem aus der ehelichen Beziehung nicht ein Miteinander von zwei gleichgestellten Individuen, sondern ein Eltern-Kind-Verhältnis wird.

Welche Ziele haben Sie sich als Mutter oder Vater für die Erziehung Ihrer Kinder, welche für den Aufbau einer fruchtbaren gegenwärtigen Beziehung zu Ihren eigenen Eltern gesetzt? Sicherlich bildet die Familie eine wichtige Einheit im Entwicklungsprozeß des einzelnen. Sie sollte jedoch keine dauernde Einheit darstellen und nicht zur Vermittlungsinstanz von Schuldgefühlen und Neurosen werden, sobald ihre einzelnen Mitglieder gefühlsmäßige Unabhängigkeit anstreben. Vielleicht haben auch Sie schon Eltern sagen hören: «Ich habe das Recht, aus meinem Kind alles zu machen, was mir beliebt.» Womit wird eine so anmaßende Haltung beantwortet? Mit Haß, Groll, Zorn und frustrierenden Schuldgefühlen beim heranwachsenden Kind. Betrachten Sie einmal gelungene Eltern-Kind-Beziehungen, an die sich keinerlei Forderungen oder Verpflichtungen knüpfen, und Sie werden auf Eltern stoßen, die ihre Kinder als Freunde behandeln. Verschüttet ein Kind Ketchup auf dem Tisch, so heißt es nicht automatisch: «Du bist aber ungeschickt, kannst du denn nicht aufpassen!» Statt dessen: die gleiche Reaktion, die auch einem kleckernden Freund gegenüber gezeigt würde – «Kann ich dir behilflich sein?» Kein Beschimpfen des Kindes, weil es ja Besitz ist, sondern Respekt vor seiner Würde. Sie werden weiter entdecken, daß tüchtige Eltern nicht zu Abhängigkeit, sondern zu Unabhängigkeit erziehen und wegen normaler Selbständigkeitswünsche niemals Szenen machen.

Abhängigkeit und Unabhängigkeit innerhalb von Familien

In Familien, wo die Unabhängigkeit jedes einzelnen ein gemeinsames Ziel ist, werden dahingehende Bestrebungen toleriert und auch unterstützt und nicht als Aggression gegenüber der Autorität irgendeines 214Familienmitglieds empfunden. Auf Anhänglichkeit und Abhängigkeit wird kein Wert gelegt. Genausowenig wird ein Kind allein wegen seiner Familienzugehörigkeit auf ewig zur «Treue» verpflichtet. Das Resultat eines solchen Verhaltens ist, daß die Familienmitglieder nicht aus Pflichtgefühl zusammen sind, sondern weil sie tatsächlich zusammen sein wollen. Die Privatsphäre eines jeden wird respektiert, und es wird nicht verlangt, alles miteinander zu teilen. In solchen Familien ist die Frau nicht bloß Mutter und Ehefrau, sondern darüber hinaus ein Mensch für sich. Sie gibt ihren Kindern ein Beispiel tatkräftigen Lebens, anstatt durch und für ihre Kinder zu leben. Die Eltern wissen, daß ihr eigenes Wohlergehen an erster Stelle kommt, denn andernfalls kann es keine Harmonie in der Familie geben. Folglich können die Eltern gelegentlich allein weggehen, und sie brauchen sich nicht verpflichtet zu fühlen, stets und ständig für ihre Kinder da zu sein. Die Mutter ist kein Dienstbote, weil sie nicht will, daß ihre Kinder, namentlich die Mädchen, zu Dienstboten werden. Und sie möchte selbst keine Sklavin sein. Sie meint nicht, daß sie jederzeit für jeden einzelnen Wunsch ihres Kindes dazusein habe, wohl aber glaubt sie, daß sie sich um so mehr an ihren Kindern freuen kann – und umgekehrt genauso –, wenn sie sich selbst verwirklicht und auf gleicher Stufe wie die Männer in Familie, Gemeinde und Kultur ihren Beitrag leistet.

In so einer Familie gibt es keine raffinierte Manipulation der Kinder mittels Schuldgefühlen und Drohungen, um ihre Abhängigkeit und Verantwortlichkeit den Eltern gegenüber aufrechtzuerhalten. Den Eltern liegt nichts daran, daß ihre Kinder sie aus Pflichtgefühl besuchen kommen. Sie sind überdies viel zu sehr damit beschäftigt, auf ihre Weise aktiv zu sein, um herumzusitzen und darauf zu warten, daß ihre Kinder und Enkel auftauchen und ihnen einen Grund zum Leben liefern. Solche Eltern finden es nicht richtig, ihren Kindern alle Steine aus dem Weg zu räumen, über die sie selbst früher gestolpert sind, weil ihnen bewußt ist, daß sie ihr Selbstvertrauen und ihre Selbstachtung eben gerade der Auseinandersetzung mit den Härten des Lebens zu verdanken haben. So wertvolle Erfahrungen würden sie ihren Kindern nicht vorenthalten wollen.

Eltern solchen Schlages verstehen den Wunsch ihrer Kinder, ihren Kampf allein zu führen – zwar mit elterlichem Beistand, aber ohne ihr Übergewicht –, als gesundes Streben, das ihnen nicht verwehrt werden 215sollte. Über die Vielfalt der Wege zur Unabhängigkeit sagt Hesses Demian:

«Jeder von uns muß einmal den Schritt tun, der ihn von seinem Vater, von seinen Lehrern trennt, jeder muß etwas von der Härte der Einsamkeit spüren … Von meinen Eltern und ihrer Welt, der ‹lichten› Welt meiner schönen Kindheit, war ich nicht in heftigem Kampf geschieden, sondern langsam und fast unmerklich ihnen ferner gekommen und fremder geworden. Es tat mir leid, es machte mir bei den Besuchen in der Heimat oft bittere Stunden …»[10]

Aus den Besuchen in der Heimat können Erlebnisse voller Zuneigung werden, wenn Sie den Kampf um Unabhängigkeit von IHren Eltern fest in den Griff bekommen. Und wenn Sie Ihren Kindern ein Beispiel von gesundem Stolz und Selbstwertgefühl bieten, dann werden sie wiederum ohne Spannung und Erschütterungen für alle Beteiligten aus dem Nest ausfliegen.

Wie es Dorothy Canfield Fisher in «Her Son's Wife» (Die Frau ihres Sohnes) so treffend auf einen Nenner gebracht hat:

«Eine Mutter ist kein Mensch zum Anlehnen, sondern jemand, der das Anlehnen überflüssig macht.»

Wohl denn, Sie können bestimmen, ob aus dem Flüggewerden ein natürliches Geschehen oder ein traumatisches Ereignis wird, das das Kind und Ihr Verhältnis zueinander für immer belastet. Aber auch Sie sind einmal Kind gewesen. Haben Sie sich die psychischen Abhängigkeitsmechanismen gründlich zu eigen gemacht? Dann spricht alles dafür, daß Sie bei Ihrer Heirat im Grunde nur ein Abhängigkeitsverhältnis gegen ein anderes ausgetauscht haben.

Abhängigkeiten in der Ehe

Vielleicht haben Sie sich aus der Abhängigkeit von Ihren Eltern gelöst und auch das Verhältnis zur Ihren eigenen Kindern unter Kontrolle gebracht. Vielleicht erkennen Sie das Unabhängigkeitsbedürfnis Ihrer Kinder an und unterstützen es. Trotz alledem kann es in Ihrem Leben immer noch ein Abhängigkeitsproblem geben: wenn Sie zu den Menschen 216gehören, die bei ihrer Heirat ein abhängiges Verhältnis zu ihren Eltern zurückgelassen haben und in ein neues eingetreten sind, dann existiert da eine seelische Problemzone, an der Sie arbeiten müssen.

Louis Anspacher hat über die Ehe in Amerika geschrieben:

«Die Ehe ist das Verhältnis zwischen Mann und Frau, bei dem die Unabhängigkeit gleich, die Abhängigkeit gegenseitig und die Verpflichtung umgekehrt proportional ist.»

Da wären sie also, die beiden häßlichen Wörter «Abhängigkeit» und «Verpflichtung», mit denen der Grund für den Zustand der Ehen und die Scheidungsrate in unserem Land angegeben ist. Es ist ganz klar so, daß die meisten von der Ehe nicht gerade viel halten, und wenn sich auch die einen mit ihr abfinden, die anderen davonlaufen mögen, so bleiben ihre psychischen Opfer doch nach wie vor auf der Strecke.

In einer auf Liebe beruhenden Beziehung läßt jeder Partner – wie bereits gesagt worden ist – dem anderen die Freiheit, zu sein, was immer er sein möchte, ohne Erwartungen oder Forderungen an ihn zu stellen. Sie ist eine einfache Verbindung zwischen zwei Menschen, die sich so sehr lieben, daß keiner vom anderen je erwarten würde, etwas zu sein, wofür der andere sich nicht selbst entscheiden würde. Sie ist eine auf Unabhängigkeit, nicht auf Abhängigkeit gegründete Gemeinschaft. In unserer Kultur kommt allerdings eine solche Beziehung so selten vor, daß sie schon fast als Produkt der Einbildungskraft erscheint. Stellen Sie sich einen Bund mit dem Menschen, den Sie lieben, vor, in dem jeder von Ihnen sein kann, was er sein will. Denken Sie dann an die Wirklichkeit der meisten Beziehungen. Woher kommt es bloß, daß sich jene schreckliche Abhängigkeit immer wieder einschleicht?

Eine typische Ehe

Durch die meisten Ehen zieht sich das Grundmuster von Herrschaft und Unterwerfung. Während die Rollen je nach den mannigfaltigen ehelichen Situationen wechseln können, bleibt die Konstellation nichtsdestoweniger die gleiche. Das Bündnis beruht auf der Grundbedingung, daß ein Partner den anderen beherrscht. Die Fallgeschichte einer typischen Ehe und die darin auftretenden psychischen Konfliktsituationen würde sich, wie in dem hier konstruierten Fall, etwa folgendermaßen 217abspielen:

Bei der Hochzeit ist der Mann dreiundzwanzig, seine Frau zwanzig Jahre alt. Er verfügt über eine etwas längere Ausbildung und hat sich die Vorrangstellung als Hauptverdiener gesichert, während seine Frau als Sekretärin, Angestellte oder vielleicht in einem von Frauen beherrschten Ausbildungsberuf wie dem der Lehrerin oder Krankenschwester arbeitet. Die Arbeit der Frau gilt nur als Füllsel für die Zeit, bevor sie Mutter wird. Nach vierjähriger Ehe, wenn zwei oder drei Kinder da sind, arbeitet die Frau als Ehefrau und Mutter im Hause. Ihre Rolle schreibt ihr vor, sich um das Haus, die Kinder und den Mann zu kümmern. Von beruflichen Gesichtspunkten her ist ihre Stellung die eines Dienstboten; sozialpsychologisch gesehen steht sie in der untergeordneten Position. Die Arbeit des Mannes gilt als erheblich wichtiger, vor allem weil er das Geld zum Unterhalt der Familie verdient. Seine Erfolge werden auch zu ihren Erfolgen, und seine gesellschaftlichen Kontakte bestimmen den gemeinsamen Freundeskreis. Der Ehemann genießt im Hause höheres Ansehen, und häufig gehört es zur Aufgabe der Frau, ihm das Leben nach Kräften behaglich zu machen. Die Frau verbringt den größten Teil des Tages im Umgang mit Kindern, oder sie verkehrt mit Nachbarsfrauen, die in der gleichen psychologischen Falle sitzen. Jede Krise, in die ihr Mann im Beruf immer geraten könnte, wird auch zur Krise der Ehefrau, und überhaupt könnte jeder unvoreingenommene Beobachter feststellen, daß in diesem Arrangement ein beherrschender einem unterlegenen Partner gegenübersteht. Ein solches Verhältnis ist von der Frau akzeptiert, ja vielleicht sogar bewußt angestrebt worden, weil sie nie etwas anderes kennengelernt hat. Ihre Ehe ahmt das Vorbild des Zusammenlebens ihrer Eltern oder anderer Ehen nach, die sie als junges Mädchen miterlebt hat. Zudem ist in den meisten Fällen die Abhängigkeit vom Ehemann lediglich an die Stelle der Abhängigkeit von den Eltern getreten. Der Mann seinerseits hat entsprechend eine sanfte, anschmiegsame Frau gewählt, die ihn als den Ernährer und in ihrem ganzen Verhältnis Führenden bestätigen würde. Folglich haben beide das bekommen, wonach sie gesucht haben und was ihren lebenslangen Erfahrungen im Hinblick auf das Funktionieren einer Ehe entspricht.

Nach mehreren, vielleicht vier bis sieben Ehejahren kommt es zur Krise. Der unterwürfige Teil fühlt sich zunehmend gefangen, unbedeutend 218und unzufrieden, weil der von ihm geleistete Beitrag nur in geringem Maße zu Buche schlägt. Der Mann ermuntert seine Frau dazu, sich stärker auf die eigenen Füße zu stellen, bestimmter aufzutreten, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und sich nicht noch länger selbst zu bemitleiden. Dies sind die ersten Aussagen, die dem widersprechen, was er bei seiner Heirat selbst gewollt hat. «Warum suchst du dir denn keine Stelle, wenn du arbeiten willst?», oder: «Mach doch deine Ausbildung zu Ende!» Er ermutigt sie dazu, sich neue Betätigungsfelder zu suchen und sich nicht noch länger so rührselig aufzuführen. Kurz: eine andere als die – nachgiebige und häusliche – Frau zu sein, die er geheiratet hat. Bisher hatte die Frau stets das Gefühl, daß an jeder Mißstimmung des Mannes sie schuld sei. «Was hab ich bloß falsch gemacht?» Ist er unglücklich oder frustriert, dann denkt sie, daß sie sich nicht richtig benommen oder daß ihre frühere Attraktivität nachgelassen haben müsse. Die Frau als der unterwürfige Partner flüchtet sich in ihre ergebene Geisteshaltung und betrachtet sich selbst als die Ursache aller Probleme des Mannes.

In diesem Stadium der Ehe wird der Mann durch Beförderungen, gesellschaftliche Kontakte und die Anstrengung, sich im Beruf durchzusetzen, stark beansprucht. Er ist auf dem Weg nach oben; eine weinerliche Frau kann er nicht neben sich dulden. Da sich ihm reichlich Gelegenheit bietet, mit einer großen Zahl verschiedenartiger Menschen zusammenzukommen – was dem untergeordneten Partner verwehrt ist –, verändert er sich. Er ist eher noch selbstsicherer, fordernder und den Schwächen anderer Menschen gegenüber – seine Familie eingeschlossen – intoleranter geworden. Daher die Ermahnungen an seine untertänige Frau, «sich doch endlich zusammenzureißen». In dieser Zeit wird der Mann sich wahrscheinlich außerhalb der Ehe nach sexuellen Abenteuern umsehen. Viele Gelegenheiten stehen ihm offen, und er sucht die Gesellschaft aufregenderer Frauen. Manchmal fängt der unterwürfige Partner der Ehe auf eigene Faust zu experimentieren an. Vielleicht, daß sie irgendwo auf freiwilliger Basis mitarbeitet, eine Ausbildung oder eine Therapie macht oder sich nun ihrerseits in ein Liebesabenteuer stürzt – wobei sie beim überwiegenden Teil dieser Aktivitäten der begeisterten Unterstützung durch den Ehemann gewiß sein kann.

Der untergeordnete Partner wird sich vielleicht tiefere Einsicht in sein eigenes Verhalten erwerben. Die Frau erkennt, daß sie nicht allein 219in ihrer Ehe, sondern ihr ganzes Leben über stets die untergeordnete Rolle gewählt hat. Ihr bestätigungssuchendes Verhalten hat nun jedoch einen Stoß bekommen, und sie fängt an, sich in Richtung auf erhöhte Selbstverantwortung auf den Weg zu machen, indem sie alle Abhängigkeiten radikal aus ihrem Leben vertreibt, ihre Abhängigkeit von ihren Eltern, ihrem Mann, ihren Freunden und sogar von ihren Kindern eingeschlossen. Nach und nach baut sie Selbstvertrauen auf. Wahrscheinlich nimmt sie eine Arbeit an und gewinnt neue Freunde. Sie beginnt, ihrem herrischen Ehemann die Stirn zu bieten und die Ungerechtigkeiten, die in der Ehe von Anfang an ihr Los gewesen sind, nicht mehr widerspruchslos hinzunehmen. Sie fordert die Gleichberechtigung, nicht länger willens, noch weiter darauf zu warten, daß sie ihr gewährt werden möge. Sie nimmt sie sich kurzentschlossen. Sie besteht auf gemeinsamer Erledigung der Hausarbeit sowie der Kinderbetreuung.

Der Ehemann akzeptiert die neugewonnene Unabhängigkeit und den Wechsel von außen- zu innengeleitetem Denken bei seiner Frau nur widerstrebend. Er fühlt sich bedroht. Angst tritt zu einem Zeitpunkt in sein Leben, an dem er sie sich nicht leisten kann. Eine aufmüpfige Ehefrau ist das letzte, was er im Augenblick gebrauchen kann, obwohl er ihr doch selbst geraten hat, sich außerhalb des Hauses umzutun und für sich selbst zu entscheiden. Daß sie sich zu einem Ungeheuer entwickeln könnte, noch dazu zu einem, das an seiner altehrwürdigen Vormachtstellung zu rütteln wagt, damit hat er nicht gerechnet. Er wird nun wahrscheinlich massiv Druck auf sie ausüben, womit er es in der Vergangenheit auch jedesmal geschafft hat, seinen unterlegenen Partner auf seinen Platz zu verweisen. Er hält ihr vor, wie unsinnig es doch für sie wäre, arbeiten zu gehen, wenn sie gleichzeitig fast ihr ganzes Gehalt für Kinderbetreuung auf den Tisch legen muß. Er weist sie auf die Unlogik ihrer Überzeugung hin, nicht gleichberechtigt zu sein. In Wirklichkeit werde sie ja sogar verwöhnt! «Du brauchst nicht zu arbeiten, wirst versorgt, hast weiter keine Pflichten, als dich um das Haus zu kümmern und deinen Kindern eine Mutter zu sein.» Er versucht es mit Schuldgefühlen. «Die Kinder werden darunter leiden.» «Ich kann im Moment keinen Ärger gebrauchen.» Vielleicht droht er mit Scheidung oder als letztem Ausweg mit Selbstmord. Oftmals kommt er damit auch durch. Die Frau sagt sich: «Jesus Maria, 220das hätte ins Auge gehen können!» und kehrt zu ihrer unterwürfigen Rolle zurück. Die massive Bevormundung hat sie erfolgreich in die Schranken gewiesen. Weigert sie sich indessen, den Schritt zurück zu machen, dann kann die Ehe selbst in Gefahr geraten. In jedem Falle kommt es zu einer schweren Krise. Wenn die Frau an Stelle ihrer früheren Unterwürfigkeit weiterhin Selbstvertrauen zur Schau tragen sollte, wird sie der Mann mit seinem Bedürfnis, über einen anderen Menschen zu herrschen, aller Wahrscheinlichkeit nach verlassen und sich einer jüngeren Frau zuwenden, die Ehrfurcht vor ihm hat und die er noch dazu bringen kann, zu ihm aufzublicken und ein niedliches kleines Schmuckstück, das sich vorzeigen läßt zu werden. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch möglich, daß die Ehe die Krise übersteht und daß es zu einem bemerkenswerten Wechsel kommt. Nach wie vor beruht die Ehe auf dem Grundmuster von Herrschaft und Unterwerfung, da das ja die einzige Form ehelichen Zusammenlebens ist, die beide Partner je in ihrem Leben kennengelernt haben. Doch nun wird häufig der Ehemann in die Rolle des Unterwürfigen schlüpfen, aus Angst vor dem Verlust dessen, was ihm lieb und teuer oder wovon er doch zumindest abhängig ist. Er wird nun mehr Zeit zu Hause verbringen, seinen Kindern näherkommen – aus schlechtem Gewissen wegen der früheren Vernachlässigung –, und er wird vielleicht Dinge sagen wie: «Du brauchst mich ja gar nicht mehr», oder «Du veränderst dich, du bist gar nicht mehr die Frau, die ich geheiratet habe – und ich bin mir nicht so sicher, ob ich dich, so wie du jetzt bist, mag.» Er ist unterwürfiger geworden. Aus dem Bedürfnis heraus, seine Frau zu manipulieren oder auch seine schon längst verlorengegangene Überlegenheit wieder aufzurichten, wird er vielleicht anfangen, zu trinken oder sich dem Selbstmitleid überlassen. Die Frau hat mittlerweile eine berufliche Laufbahn eingeschlagen oder doch zumindest angesteuert. Sie verfügt über ihren eigenen Freundeskreis und entwickelt eigenständige Interessen außerhalb des Hauses. Vielleicht geht sie nun eine Liebesaffäre ein, als Geste der Vergeltung, die ihr Selbstvertrauen stärkt; auf jeden Fall tut es ihr wohl, daß sie nun für ihre Talente Anerkennung und Komplimente einheimst. Die Ehe beruht jedoch weiterhin auf dem alten unveränderten Grundmuster. Drohend steht die Krise überm Horizont. Solange einer der Partner sich überlegen fühlen muß oder allein Angst vor der Scheidung die beiden zusammenhält, 221bildet Abhängigkeit immer noch den Eckstein des Bündnisses. Der dominierende Partner, ganz gleich ob Mann oder Frau, gibt sich mit einem Sklaven als Gegenüber nicht zufrieden. Obwohl die Ehe im rechtlichen Sinn weiterbestehen mag, ist doch alle Liebe und Kommunikation zwischen den Partnern zerstört. An diesem Punkt kommt es häufig zur Scheidung. Wo nicht, fangen zwei Menschen an, innerhalb der Ehe ihrer Wege zu gehen – kein Sex, getrennte Schlafzimmer, ein statt auf Verstehen auf gegenseitiger Herabsetzung beruhendes Kommunikationsmuster.

Ein anderer Abschluß ist möglich, wenn beide Partner beschließen sollten, sich selbst und ihr Verhältnis zueinander gründlich zu überprüfen. Wenn beide darauf hinarbeiten, sich aus ihren seelischen Problemzonen zu befreien und sich auf die Weise zu lieben, daß sie dem anderen die Freiheit lassen, seine eigene Erfüllung zu wählen, dann kann auch die Ehe wachsen und gedeihen. Für zwei selbstsichere Menschen, die sich gern genug haben, um beim anderen Unabhängigkeit, nicht Abhängigkeit zu unterstützen und gleichzeitig jedoch ihr Glücklichsein mit dem geliebten Menschen zu teilen, kann die Ehe eine aufregende Aussicht darstellen. Aber wenn zwei Leute zu einer Einheit verschmelzen wollen oder wenn der eine Partner versucht, den anderen zu unterjochen, dann lodert jener Funke des stärksten menschlichen Bedürfnisses, den wir alle in uns tragen, hell auf: der Wunsch nach Unabhängigkeit.

Langlebigkeit ist noch kein Beweis für das Gelingen einer Ehe. Viele bleiben nur aus Angst vor dem Unbekannten weiterhin verheiratet, aus Unbeweglichkeit oder schlichtweg, weil es eben das Übliche ist. In einer wirklich erfolgreichen Ehe, in der beide Partner echte Liebe füreinander empfinden, ist jeder willens, den anderen selbst entscheiden zu lassen, anstatt ihn beherrschen zu wollen. Dabei bleibt kein Raum für jene gehässigen Streitereien, bei denen der eine für den anderen Partner denkt und spricht und fordert, daß er auch tut, was von ihm verlangt wird. Abhängigkeit ist die Schlange im Paradies der glücklichen Ehe. Sie erzeugt von Herrschaft und Unterwerfung geprägte Verhaltensmuster und führt schließlich zur Zerstörung der Beziehung. Es ist möglich, diese seelische Problemzone zu beseitigen; eine leichte Auseinandersetzung wird es jedoch in keinem Falle werden, denn dabei stehen Macht und Herrschaft auf dem Spiel, die nur 222wenige kampflos aus der Hand zu geben bereit sind. Am allerwichtigsten: Abhängigkeit sollte nie mit Liebe verwechselt werden. Ironischerweise können ein paar Luftlöcher im Zusammensein die Ehe nur festigen.

Die anderen behandeln Sie so, wie sie es von Ihnen gelernt haben

Abhängigkeit ergibt sich nicht schon durch die bloße Gemeinschaft mit herrischen Leuten. Wie alle von seelischen Problemzonen bestimmte Verhaltensweisen stellt auch sie das Ergebnis einer Wahl dar. Sie lehren die anderen, Sie zu beherrschen und Sie so zu behandeln, wie Sie schon seit je behandelt worden sind. Es gibt viele Methoden, den Unterjochungsprozeß aufrechtzuerhalten, die nur dann erneut angewandt werden, wenn sie auch wirken. Das tun sie dann, wenn sie Sie bei Gehorsam und innerhalb der Beziehung in abhängiger Stellung halten. Nachfolgend finden Sie einen Teil der gebräuchlichen Strategien zur Wahrung des Grundmusters von Herrschaft und Lenkung in der Ehe.

Bei allen obengenannten Strategien handelt es sich um Methoden, den anderen in der Ehe in der gewünschten Rolle festzuhalten. Solange sie ihren Zweck erfüllen, werden sie auch angewandt. Sobald sich der eine Partner nicht mehr durch sie manipulieren läßt, wird sie der andere nicht länger gebrauchen. Nur wenn sein Gefährte für diese Spielchen empfänglich ist, wird der andere sie sich zur Gewohnheit machen. Wenn Sie mit der erwarteten unterwürfigen Reaktion antworten, zeigen Sie Ihrem Partner, was Sie hinzunehmen bereit sind.

Stößt man sie herum, dann deshalb, weil Sie «Stoß-mich-herum»-Signale ausgesendet haben. Sie können lernen, den anderen beizubringen, Sie auf die Art zu behandeln, auf die Sie behandelt werden möchten. Es wird zwar einiges an Zeit und Mühe kosten, da es ja auch lange gedauert hat, bis Sie die anderen darauf trainiert hatten, wie Sie bis jetzt behandelt werden wollten. Aber Sie können das ändern, sei es nun bei der Arbeit, in der Familie, im Restaurant, im Bus, überhaupt überall, wo man geringschätzig mit Ihnen umgeht und wo Sie sich nicht länger damit abfinden wollen. Sagen Sie nicht: «Warum behandeln Sie mich nicht besser?», sondern fangen Sie an, sich selbst zu fragen: «Inwiefern trage ich eigentlich dazu bei, daß die anderen so mit mir umspringen?» Sehen Sie das Ganze von sich aus und unternehmen Sie die ersten Schritte, um die betreffenden Reaktionen bei sich zu ändern.

224

Verhaltensweisen, die Abhängigkeiten untersützen

Der seelische «Abhängigkeitsgewinn»

Die Gründe, aus denen man weiterhin auf einem Verhalten, durch das man sich selbst ignoriert, beharrt, sind nicht sehr kompliziert. Vermutlich kennen Sie die Entschädigungen für die Abhängigkeit von anderen; aber wissen Sie auch, wie zerstörerisch sie sich auswirken? Abhängigkeit mag durchaus harmlos erscheinen – sie untergräbt jedoch Glück und Erfüllung. Hier finden Sie die Gewinne, die man üblicherweise daraus zieht, sich selbst weiterhin abhängig zu machen:

Machen Sie Schluß mit den Abhängigkeiten

Beim erfolgreichen Leben und Kindererziehen geht es in erster Linie um Unabhängigkeit. Entsprechend ist eine erfolgreiche Ehe durch minimale Verschmelzung, aber optimale Autonomie und größtmögliches Vertrauen der Partner in sich selbst gekennzeichnet. Und obwohl Sie vielleicht wirklich Angst davor haben, sich aus einem Abhängigkeitsverhältnis zu befreien, würden Sie doch – wenn Sie einmal diejenigen, von denen Sie emotional abhängig sind, um ihre Meinung bäten – überraschenderweise erfahren, daß sie ausgerechnet die Menschen am meisten bewundern, die selbständig denken und handeln. Schon wieder ein Paradoxon: mit Ihrer Unabhängigkeit können Sie den anderen am meisten imponieren, vor allem denjenigen, die sich am stärksten bemühen, Sie weiterhin zu unterdrücken! Ein Kind kann sich im elterlichen Nest wundervoll entwickeln, noch beglückender jedoch ist das Erlebnis des Flüggewerdens; beide, sowohl der Scheidende wie auch der den Start Beobachtende, können sich darin einig sein.

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XI.
Der Ärger hört auf – für immer

Das einzige Gegenmittel gegen Ärger
liegt in der Beseitigung des inneren Satzes:
«Wenn du mir doch nur ähnlicher wärst!»

Brennen Ihre Sicherungen leicht durch? Es kann gut sein, daß Sie Ärger als einen ganz selbstverständlich zum Leben gehörenden Sachverhalt akzeptieren. Sehen Sie jedoch andererseits auch ein, daß er keinerlei nützlichen Zweck erfüllt? Vielleicht haben Sie Ihr Kurzschlußverhalten bisher stets mit Wendungen wie «Das ist doch nur menschlich!» oder «Wenn ich meinen Ärger nicht rauslasse, staue ich ihn nur in mir an und kriege womöglich noch ein Magengeschwür!» gerechtfertigt. Dennoch bildet das Ärgern aller Wahrscheinlichkeit nach eine Seite Ihrer selbst, die Sie nicht so gut leiden können, und – überflüssig zu sagen – die anderen auch nicht.

Ärger ist nicht «nur menschlich». Sie sind auf keinen Fall gezwungen, mit ihm zu leben; er dient keinem Zweck, der mit Glücklichsein und menschlicher Erfüllung auch nur das Geringste zu tun hätte. Ärger ist eine seelische Problemzone, so eine Art seelischer Grippe, die Sie jedoch nicht weniger behindert als eine körperliche Krankheit.

Lassen Sie uns zunächst den Ausdruck Ärger definieren. So wie er in diesem Kapitel gebraucht wird, bezieht er sich auf eine lähmende Reaktion, die erfolgt, sobald eine wie auch immer geartete Erwartung sich nicht erfüllt. Er tritt auf als Zorn, Feindseligkeit, über jemand Herfallen oder auch als mürrisches Schweigen. Ärger ist mehr als Verdrießlichkeit oder Gereiztheit. Wieder einmal ist «Unbeweglichkeit» das Schlüsselwort: Ärger wirkt lähmend; er entsteht normalerweise aus dem Wunsch, die Welt und die Menschen auf der Welt möchten anders sein, als sie in Wirklichkeit sind.

Ärger ist sowohl eine Entscheidung als auch eine Gewohnheit. Er 231stellt eine erlernte Reaktion auf Frustration dar, wobei Sie sich auf eine Art und Weise verhalten, mit der Sie selbst nicht voll einverstanden sind. Heftiger Ärger ist in der Tat eine Spielart der geistigen Umnachtung: Geistig umnachtet ist, wer sein Verhalten nicht unter Kontrolle hat; wenn Sie vor Ärger außer sich geraten, sind Sie logischerweise zeitweilig geistig umnachtet.

Auf Ärger steht keinerlei psychische Belohnung. So wie wir ihn hier verstehen, wirkt er schwächend. Er kann im psychosomatischen Bereich zu erhöhtem Blutdruck, Magengeschwüren, Hautausschlägen, Herzklopfen, Schlaflosigkeit, Erschöpfungszuständen und sogar zu Herzbeschwerden führen. In psychologischer Hinsicht zerstört Ärger Liebesbeziehungen, beeinträchtigt die Kommunikation, zieht Schuldgefühle und Depressionen nach sich und wirkt ganz allgemein als Störfaktor. Mag sein, daß das alles bei Ihnen auf Skepsis stößt, da Sie doch immer wieder gehört haben, wieviel gesünder es sei, seinem Ärger Luft zu machen, als ihn zurückzudrängen. Selbstverständlich ist es gesünder, seinen Ärger zu zeigen als ihn zu unterdrücken. Aber es gibt da ja noch einen gesünderen Standpunkt: ihn gar nicht erst aufkommen lassen! Damit geraten Sie gar nicht erst in das Dilemma, ob Sie nun lieber überkochen oder alles hinunterschlucken sollen.

Wie alle Gefühle ist auch Ärger eine Folge unseres Denkens. Er fällt nicht aus heiterem Himmel auf Sie herab. Wenn sich die Situation, der Sie sich gegenübersehen, nicht nach Ihren Wünschen entwickelt, sagen Sie sich selbst ein, daß das alles ganz anders sein sollte – Frustration –, und dann wählen Sie eine vertraute Ärgerreaktion, die einem bestimmten Zweck dient – siehe den Abschnitt «Entschädigungen» weiter hinten in diesem Kapitel. Und solange Sie Ihren Ärger als etwas ganz ohne Frage zum Menschsein Gehörendes ansehen, haben Sie auch einen Grund, sich mit ihm abzufinden und nicht Schritte gegen ihn unternehmen zu müssen.

Lassen Sie um jeden Preis Ihrem Ärger freien Lauf, reagieren Sie ihn auf ungefährliche Arten an – wenn Sie wirklich weiter an ihm festhalten wollen. Fangen Sie jedoch damit an, sich selbst die Fähigkeit zuzutrauen, bei Frustrationen anders zu denken, so daß erfüllendere Gefühle an die Stelle lähmenden Ärgers treten können. Höchstwahrscheinlich werden Sie auch weiterhin Verdruß, Gereiztheit und Enttäuschung empfinden, da die Welt nie so sein wird, wie Sie sie sich wünschen – 232Ärger, diese schmerzhafte emotionale Reaktion auf Hindernisse auf Ihrem Weg, kann jedoch beseitigt werden.

Vielleicht wollen Sie dem Ärger eine Lanze brechen, da Sie Ihren Willen mit seiner Hilfe so gut durchsetzen können. Nun, schauen Sie einmal etwas genauer hin. Wenn Sie meinen, daß die Stimme erheben und eine böse Miene machen Ihnen hilft, Ihre zweijährige Tochter vom Spielen auf der Straße abzuhalten, wo ihr etwas geschehen könnte, dann haben Sie mit dem Lautwerden eine ausgezeichnete Strategie gewählt. Zu Ärger wird sie erst dann, wenn Sie wirklich die Fassung verlieren, wenn Ihnen das Blut zu Kopfe steigt und das Herz zu rasen anfängt, wenn Sie mit Türen schlagen und überhaupt für eine ganze Weile manövrierunfähig werden. Wählen Sie unter allen Umständen Ihre persönlichen Vorgehensweisen so, daß sie angemessenes Verhalten bei den anderen verstärken; aber weigern Sie sich strikt, die damit verbundenen inneren Wunden in Kauf zu nehmen! Sie können lernen, folgendermaßen zu denken: «Meine kleine Tochter legt da ein Verhalten an den Tag, das sie gefährden kann. Sie soll einsehen, daß auf der Straße Spielen nicht geduldet wird. Ich werde es ihr in gehöriger Lautstärke sagen, damit sie merkt, daß es mir tatsächlich ernst ist. Aber herumlaufen und verrückt spielen werde ich deswegen noch lange nicht!»

Denken Sie sich dagegen eine typische Mutter, die eine solche begrenzte Entfaltung von Ärger nicht meistert. Ständig raubt ihr das wiederholte schlechte Betragen ihrer Kinder die Fassung. Es sieht so aus, als ob die Kinder um so unartiger würden, je mehr sie sich aufregt. Sie bestraft die Kinder, schickt sie auf ihr Zimmer, zetert die ganze Zeit herum und ist praktisch unablässig aufs höchste gereizt, wenn sie mit ihnen zu tun hat. Ihr Leben als Mutter ist ein ständiger Kampf. Außer mit Geschrei weiß sie sich nicht zu helfen, und jeden Abend wankt sie vollkommen erschöpft vom Schlachtfeld – ein emotionales Wrack.

Warum sind die Kinder eigentlich so widerborstig, obwohl sie doch wissen, wie sehr ihre Mutter sich jedesmal aufzuregen beschließt, wenn sie über die Stränge schlagen? Weil es durch Ärger ironischerweise nie gelingen will, andere zu ändern. Er stachelt ihr Verlangen, die sich ärgernde Person in die Hand zu bekommen, nur noch stärker an. Hören Sie einmal, was die oben erwähnten Kinder vorbringen würden, gesetzt den Fall, sie könnten Vernunftgründe für ihr provozierendes 233Verhalten in Worte fassen.

«Ist es nicht erstaunlich, wie schnell Mami loslegt? Dazu braucht es weiter nichts, als daß man dies sagt oder jenes tut, und schon hat man sie unter Kontrolle und kann sie zu einem ihrer Ausbrüche treiben. Man muß dann allerdings vielleicht eine Weile auf seinem Zimmer bleiben, aber seht doch, was dabei herausspringt: völlige gefühlsmäßige Beherrschung und nur so wenig Aufwand dafür! Da wir sowieso so wenig Macht über sie haben, laßt uns das noch ein paarmal wiederholen und dabei zusehen, wie wir sie durch unser Verhalten glatt auf die Palme bringen!»

In allen Beziehungen wird Ärger den Partner so gut wie in jedem Fall nur dazu ermuntern, sich auch weiterhin so zu verhalten wie bisher. Mag der herausfordernde Teil auch zaghaft vorgehen, so weiß er doch, daß er den anderen jederzeit provozieren und damit die gleiche rachsüchtige Autorität ausüben kann, die das sich ärgernde Individuum selbst innezuhaben glaubt.

Immer wenn Sie auf das Verhalten eines anderen mit Ärger reagieren, enthalten Sie ihm damit das Recht vor, so zu sein, wie er selbst sein möchte. Durch Ihren Kopf geistert der neurotische Satz: «Warum kannst du mir denn nicht ähnlicher sein? Dann könnte ich dich jetzt gern haben und wäre nicht aufgebracht.» Aber die anderen werden niemals jederzeit Ihren Wünschen entsprechen; sehr häufig sogar werden Dinge und Menschen ganz anders sein, als Sie es erwarten. Das ist der Lauf der Welt, und die Wahrscheinlichkeit, daß sich daran je etwas ändern sollte, ist gleich Null. Jedesmal, wenn Sie sich für Ärger entscheiden, weil Ihnen wieder mal ein Mensch oder eine Sache nicht in den Kram passen, beschließen Sie damit zugleich, sich durch die Realität innerlich verletzen und ausmanövrieren zu lassen. Und wenn das nicht reiner Unverstand ist – sich durch Dinge aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen, die sich niemals ändern werden! Anstatt Ärger zu wählen, können Sie anfangen, den anderen das Recht zuzugestehen, nicht unbedingt so sein zu müssen, wie Sie es gerne hätten. Das kann Ihnen ruhig mißfallen, nur eben ärgern sollten Sie sich nicht darüber. Wenn Sie so richtig wütend werden, wird das die anderen nur noch mehr dazu anfeuern, auf dieselbe Art weiterzumachen, und Ihnen wird es weiter nichts als die oben aufgeführten körperlichen Belastungen und seelisches Mißbehagen einbringen. Sie stehen vor der Wahl: 234hie Ärger – da eine neue innere Einstellung zu Ereignissen und Dingen, die Ihnen helfen wird, ohne Ärger auszukommen.

Vielleicht meinen Sie, Sie gehörten ins gegnerische Lager – also zu denjenigen, die zwar sehr häufig Ärger in sich aufsteigen fühlen, jedoch noch nie den Mut besessen haben, ihn auch nach außen zu kehren. Sie drängen ihn zurück und schweigen still, während Sie langsam, aber sicher auf ein schmerzhaftes Magengeschwür zusteuern und Tag für Tag eine Menge Angst zu verkraften haben. Aber damit sind Sie noch lange nicht das Gegenstück des Menschen, der bei jeder Gelegenheit überkocht. In Ihrem Kopf geistern immer noch die gleichen Vorstellungen umher, daß nämlich Menschen und Dinge so sein sollten, wie Sie es sich wünschen. Wäre das der Fall – so folgern Sie –, dann würden Sie sich auch nicht ärgern. Das ist fehlerhafte Logik; in ihrer Beseitigung liegt das Geheimnis, sich von der Spannung, die Sie im Griff hält, zu befreien. Während Ihnen wahrscheinlich darum zu tun sein wird, aufgestauten Ärger auszudrücken, anstatt ihn in sich zurückzuhalten, bleibt es doch das höchste Ziel, in anderen Bahnen denken zu lernen, bei denen Ärger gar nicht erst entsteht. Etwa innere Gedanken dieser Art: «Soll er sich doch zum Narren machen, ich werde mich jedenfalls deswegen nicht dafür entscheiden, mich aufzuregen. Sein einfältiges Verhalten ist seine Sache, nicht meine.» Oder: «Es läuft alles nicht so, wie ich es mir eigentlich vorstelle. Das behagt mir zwar wenig, aber lahmlegen werde ich mich deshalb noch lange nicht.»

Den Ärger mit mutigen neuen Verhaltensweisen ausdrücken zu lernen, von denen dies ganze Buch über die Rede gewesen ist, haben Sie als Anfangsschritt vor sich. Indem Sie in neuen Bahnen denken – was Ihnen helfen wird, von der äußeren zur inneren Seite des großen Hauptbuches für geistige Gesundheit überzuwechseln –, erklimmen Sie die höchste Stufe: sich weigern, das Verhalten eines anderen zu Ihrer Sache zu machen. Sie können lernen, dem Verhalten und den Ideen anderer nicht mehr länger die Macht einzuräumen, Sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wenn Sie sich selbst hochschätzen und sich der Beherrschung durch andere entziehen, werden Sie sich auch im gegenwärtigen Augenblick mit Ihrem Ärger nicht mehr selbst verletzen.

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Humor ist der Sonnenschein der Seele

Es ist unmöglich, sich zu ärgern und im selben Augenblick zu lachen. Ärger und Lachen schließen sich gegenseitig aus; es steht Ihnen frei, sich für eines von beiden zu entscheiden.

Lachen ist der Sonnenschein der Seele. Nichts kann ohne Sonnenschein leben und wachsen. Wie Winston Churchill einmal gesagt hat:

«Ich bin der Überzeugung, daß niemand mit den allerernstesten Dingen auf Erden umgehen kann, es sei denn, er hätte auch Sinn für die erheiterndsten.»

Vielleicht nehmen Sie das Leben zu ernst. Eines der hervorstechendsten Merkmale gesunder Menschen ist ihr friedfertiger Humor. Anderen helfen, sich für das Lachen zu entscheiden und lernen, die Ungereimtheiten so gut wie jeder Lebenslage mit ein bißchen Abstand zu betrachten – darin liegt eine vorzügliche Medizin gegen Ärger.

Was Sie so tun und lassen und auch die Frage, ob Sie sich nun ärgern oder nicht, hat alles in allem nicht mehr Einfluß, als wenn Sie hingingen und ein Glas Wasser die Niagarafälle hinunterschütteten. Ob Sie Lachen oder Ärger bevorzugen, fällt für die Welt kaum ins Gewicht, abgesehen davon, daß ersteres Ihre Gegenwart mit Glück, letzteres sie mit Trübsal erfüllen und verschleudern wird.

Nehmen Sie sich selbst und Ihr Leben tatsächlich so wichtig, daß Sie keinen Augenblick innehalten können, um zu erkennen, wie absurd es ist, an die Dinge mit so feierlichem Ernst heranzugehen? Fehlendes Lachen ist ein Zeichen von Krankhaftigkeit. Falls Sie dazu neigen, sich selbst und Ihr Handeln übermäßig wichtig zu nehmen, dann erinnern Sie sich doch einmal daran, daß dies jetzt die einzige Zeit ist, die Sie haben. Warum denn Ihre gegenwärtigen Augenblicke mit Ärger verschwenden, wenn Lachen so wohltut?

Lachen bloß um des Lachens willen. Es ist seine eigene Rechtfertigung. Lachen Sie doch einfach! Schauen Sie auf sich und die anderen auf dieser verrückten Welt und entscheiden Sie, ob Sie lieber Ärger mit sich herumschleppen oder Sinn für Humor entwickeln wollen, der Ihnen und den anderen eine der unbezahlbarsten Gaben auf dieser Welt einbringen kann: das Lachen. Es tut einfach im Herzen wohl!

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Der Ärger «am Werk»

Ständig können Sie Ärger «am Werk» sehen. Beispiele von Leuten, die unterschiedliche Grade von Unbeweglichkeit durchleben, von leichter Erregung bis zu blindem Wüten, gibt es überall. Ärger ist der Krebs – wenn auch ein erlernter –, den man in fast allen zwischenmenschlichen Beziehungen entdecken kann. Unten finden Sie einige der häufiger auftretenden Fälle, in denen Ärger gewählt wird.

Ärger hat viele Gesichter

Nun da wir uns einige der Gelegenheiten, bei denen Sie möglicherweise Ärger wählen, vor Augen geführt haben, lassen Sie uns weiter sehen, in welchen Spielarten er auftreten kann.

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Die Aufzählung möglichen Ärgerverhaltens könnte zwar endlos so weitergehen, doch schließen die obengenannten Beispiele die gebräuchlichsten Formen des Ärgers ein, so wie er in dieser seelischen Problemzone zutage tritt.

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Wie Sie sich für Ihren eigenen Ärger belohnen

Ihre Bemühungen, eine stärkere Sicherung bei sich einzubauen, können Sie am wirkungsvollsten beginnen, indem Sie sich Einsicht in die Gründe verschaffen, aus denen Sie sich seiner überhaupt bedienen. Hier stehen ein paar der psychologischen Motive, weiterhin mit derselben schwachen Sicherung zu operieren.

Ein paar Vorschläge, wie man den Ärger aus der Welt schaffen kann

Die Beseitigung des Ärgers ist möglich. Sie erfordert jedoch nicht allein eine kräftige Dosis neuen Denkens, sondern geht auch nur redlich einen gegenwärtigen Augenblick nach dem anderen vonstatten. Wenn Sie sich Menschen oder Situationen gegenübersehen, die Sie zur Wahl von Ärger provozieren, dann machen Sie sich bewußt, was Sie sich im jeweiligen Augenblick selbst einsagen. Bemühen Sie sich dann um neue Sätze, aus denen andere Gefühle und fruchtbarere Verhaltensweisen erwachsen können. Hier folgen ein paar spezifische Strategien, um dem Ärger zuleibe zu rücken:

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Ärger ist ein Klotz am Bein, der zu rein gar nichts gut ist. Wie alle seelischen Problemzonen erfüllt auch er nur den Zweck, Dinge außerhalb Ihrer eigenen Person als Rechtfertigung für Ihre Gefühle heranzuziehen. Lassen Sie die anderen aus dem Spiel. Entscheiden Sie sich selbst – aber nicht für Ärger, wenn es irgendwie geht.

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XII.
So lebt man nach der Abkehr von seinen seelischen Problemzonen

Sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, zu sein, um darauf zu achten, was Ihre Nachbarn tun.

Der Mensch, der alle Verhaltensweisen, die unmittelbar mit seelischen Problemzonen zusammenhängen, positiv verändert oder ausgeräumt hat, mag als fiktive Gestalt erscheinen; von selbstzerstörerischem Verhalten frei zu sein, ist dennoch keine reine Fiktion, sondern eine reale Möglichkeit. Auch für Sie ist es erreichbar, Ihr Leben voll zu leben, genauso wie Sie sich für vollkommene, sich im gegenwärtigen Augenblick manifestierende geistige Gesundheit entscheiden können. In diesem Schlußkapitel soll dargestellt werden, wie Menschen leben, die von allem mit seelischen Problemzonen verbundenem Denken und Verhalten frei sind. Dabei wird das Bild eines Menschen vor Ihren Augen erstehen, der anders ist als die große Mehrzahl der Leute, erkennbar an einer geradezu unheimlichen Fähigkeit, in jedem Augenblick schöpferisch lebendig zu sein.

Menschen ohne seelische Problemzonen sind keine Nullachtfünfzehn-Typen. Zwar unterscheidet sie im Aussehen nichts von jedermann, doch besitzen sie deutlich unterschiedene Qualitäten, von denen allerdings keine rassischer, sozioökonomischer oder sexueller Natur sind. Nach irgendwelchen Rollen, Stellenbeschreibungen, geographischen Gesetzmäßigkeiten, Ausbildungsstufen oder Einkommensstatistiken lassen sie sich nicht so ohne weiteres einordnen. Es hat seine eigene Bewandtnis mit ihnen; der Unterschied ist jedoch an den üblichen äußerlichen Merkmalen, nach denen wir die Leute gemeinhin einzuteilen pflegen, nicht ablesbar. Sie können genausogut reich wie arm, männlich wie weiblich, schwarz wie weiß sein, überall ansässig und praktisch in jedem Beruf beschäftigt. Sie bilden eine buntgemischte 245Gruppe, und doch haben sie alle einen einzigen Zug gemeinsam: Freiheit von seelischen Problemzonen. Woran können Sie merken, ob Sie es mit solchen Leuten zu tun haben? Sehen Sie sie sich gut an! Hören Sie ihnen aufmerksam zu! Hier folgt, was Sie dabei entdecken werden.

Als erstes fällt ins Auge, daß diese Menschen das Leben lieben, ganz und ohne Einschränkungen. Sie fühlen sich wohl, ganz gleich, was immer sie auch machen, und verschwenden ihre Zeit niemals mit Klagen oder Wünschen, alles sollte lieber anders sein. Sie sind begeistert vom Leben; sie möchten so viel davon haben, wie sie nur können. Sie mögen Picknicks, Filme, Bücher, Sport, Städte, Bauernhöfe, Tiere, Berge und so ungefähr alles, was es gibt. Sie mögen das Leben. Wenn Sie mit solchen Leuten zusammen sind, wird Ihnen auffallen, daß sie weder nörgeln noch jammern, ja nicht einmal passiv seufzen. Regnet es, so ist es ihnen recht. Ist's heiß, so sind sie genauso in ihrem Element; Klagen werden Sie von ihnen keine hören. Ob sie nun im Verkehrsstau, auf einer Party oder ganz allein sind, sie lassen sich einfach auf das ein, was jeweils um sie herum vorgeht. Das ist kein vorgetäuschtes Genießen, sondern vernünftiges Akzeptieren der Wirklichkeit und eine seltsame Fähigkeit, sich an ihr zu freuen. Fragen Sie sie, was sie nicht mögen, und sie werden in arge Verlegenheit kommen, darauf eine ehrliche Antwort zu geben. Sie sind nicht vernünftig genug, sich bei Regen unterzustellen, weil sie Regen als etwas Schönes, Aufregendes und Erlebenswertes betrachten. Sie mögen ihn. Auch ein matschiger Weg kann sie nicht in Wutanfälle treiben; sie gucken hin, spritzen darin herum und nehmen ihn an als eine Sache, die ebenfalls zum Leben gehört. Ob sie für Katzen etwas übrighaben? Ja. Für Bären? Ja. Für Würmer. Aber ja. Während Krankheiten, Dürren, Stechmücken, Überschwemmungen und ähnliche Unbill auch von ihnen nicht mit Freuden empfangen werden, beklagen sie sich doch keinen einzigen gegenwärtigen Augenblick lang darüber, noch wünschen sie sie einfach weg. Müssen bestimmte Situationen radikal verändert werden, dann unternehmen sie Anstrengungen, sie zu verändern – und genießen die Anstrengungen noch obendrein. Versuchen Sie es ruhig, aber es wird Sie einiges Kopfzerbrechen kosten, irgendeine Tätigkeit zu nennen, vor der diese Menschen Widerwillen empfinden. Die Wahrheit ist: sie lieben das Leben, möchten nichts davon auslassen und es in vollen 246Zügen genießen, so sehr sie nur können.

Gesunde, erfüllte Menschen sind frei von Schuldgefühlen und den begleitenden Ängsten, die immer dann auftreten, wenn gegenwärtige Augenblicke dazu benutzt werden, sich durch Ereignisse der Vergangenheit lahmlegen zu lassen. Gewiß können sie Fehler eingestehen und geloben, bestimmte, in irgendeiner Weise unfruchtbare Verhaltensweisen in Zukunft zu unterlassen. Nie aber verschwenden sie ihre Zeit, indem sie wünschen, daß sie etwas lieber hätten unterlassen sollen oder verstört dasitzen, weil ihnen etwas mißfällt, was sie zu einem früheren Zeitpunkt ihres Lebens getan haben. Eines der Kennzeichen gesunder Individuen ist das völlige Fehlen von Schuldgefühlen. Kein Wehklagen über Vergangenes, keine Versuche, anderen ein schlechtes Gewissen einzujagen mit so sinnlosen Fragen wie: «Warum hast du das denn nicht anders gemacht?» oder «Schämst du dich gar nicht?» Offensichtlich erkennen sie an, daß das gelebte Leben vorbei ist und daß auch noch so viel Bedauern an der Vergangenheit nichts mehr ändern kann. Sie selbst sind von Schuldgefühlen frei, ohne daß sie sich besonders darum bemühen müßten. Da es für sie das Natürliche ist, tragen sie auch in keiner Weise dazu bei, daß andere sich für Schuldgefühle entscheiden. Sie wissen wohl, daß gegenwärtiges Niedergeschlagensein ein dürftiges Selbstbild nur noch weiter verstärkt und daß es wesentlich wünschenswerter ist, aus der Vergangenheit zu lernen, als darüber zu räsonnieren. Nie werden Sie erleben, daß solche Menschen andere zu manipulieren versuchten, indem sie ihnen etwa erzählten, wie schlecht sie sich betragen hätten. Genausowenig wird es Ihnen umgekehrt gelingen, sie selbst mit der gleichen Taktik unter Druck zu setzen. Diese Menschen werden noch nicht einmal wütend auf Sie – sie beachten Sie einfach nicht. Sie ärgern sich nicht über Sie, sondern gehen beiseite oder wechseln das Thema. Bei diesen Gesunden zeitigt die Methode, auf die die meisten prompt hereinfallen, keinerlei Wirkung. Anstatt sich und anderen mit Schuldgefühlen das Leben schwerzumachen, gehen sie der ganzen Sache jedesmal ohne viel Federlesens aus dem Weg.

Menschen ohne wunde Punkte sind entsprechend auch Sorglose. Umstände, die viele Leute zur Raserei treiben, berühren diese Individuen kaum. Sie sind weder Plan- noch Sparfanatiker. Sie weigern sich rundheraus, sich Sorgen zu machen und halten sich ganz frei von der 247damit einhergehenden Angst. Sie können sich gar nicht sorgen. Es liegt ihnen einfach nicht. Zwar sind sie nicht unbedingt in jedem Augenblick die Ruhe in Person, doch fehlt ihnen jede Bereitschaft, sich in den gegenwärtigen Augenblicken mit zukünftigen Ereignissen herumzuquälen, die sie doch gar nicht beeinflussen können. Sie sind ganz auf den gegenwärtigen Augenblick bezogen und verfügen über ein inneres Alarmsignal, das sie anscheinend beständig daran erinnert, daß alles Sichsorgen ja notwendigerweise im gegenwärtigen Augenblick vor sich gehen muß, daß es also eine törichte Art darstellt, sein Leben in der Gegenwart zu leben.

Diese Menschen leben weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft, sondern im Jetzt. Das Unbekannte birgt für sie keine Schrecken, und sie suchen aktiv nach neuen, ungewohnten Erfahrungen. Sie lieben alles Mehrdeutige. Unter allen Umständen kosten sie das Jetzt aus, wohl bewußt, daß sie weiter nichts haben. Sie schmieden keine Pläne für ein zukünftiges Ereignis und lassen dann, während sie darauf warten, lange Zeitabschnitte untätig verstreichen. Die Augenblicke zwischen den großen Ereignissen erscheinen ihnen nicht minder lebenswert als die, die durch die Ereignisse selbst ausgefüllt werden, und sie besitzen eine schier unheimliche Fähigkeit, aus ihrem täglichen Leben so viel Vergnügen wie möglich zu ziehen. Sie schieben nicht auf, legen nicht nach Art der emsigen Ameise Wintervorräte an, und obschon ihr Verhalten von der Umwelt mißbilligt wird, sind sie gegen Selbstanklagen gefeit. Sie bringen die Ernte ihres Glücks jetzt ein, und wenn ein zukünftiges Jetzt anbrechen wird, werden sie auch jenes einbringen. Diese Individuen sind ständig am Genießen, weil sie eingesehen haben, wie dumm es ist, damit zu warten. Das ist eine natürliche Lebensweise, der eines Kindes oder Tieres sehr ähnlich. Während die meisten Menschen ihr Leben im Warten auf Entschädigungen verbringen und nie in die Lage kommen, sie auch tatsächlich zu genießen, sind sie vollauf damit beschäftigt, dem gegenwärtigen Augenblick Erfüllung abzugewinnen.

Solche gesunden Menschen sind auffällig unabhängig. Sie sind aus dem Nest ausgeflogen. Mögen sie ihre Familie auch aufrichtig und innig lieben, so sehen sie doch Unabhängigkeit in allen Beziehungen als der Abhängigkeit überlegen an. Persönlich von allen Erwartungen frei zu sein, ist ihnen viel wert. Ihre Beziehungen gründen sich stets auf das 248jRecht jedes Partners, für sich selbst zu entscheiden. Diese Menschen können einen anderen lieben, ohne ihm ihre Werte aufzwingen zu wollen. Ihr Privatbereich liegt ihnen sehr am Herzen, so daß bei anderen manchmal das Gefühl entstehen kann, vor den Kopf gestoßen oder zurückgewiesen zu werden. Zuzeiten sind sie gern allein, und sie setzen sehr viel daran, sicherzustellen, daß ihre Privatsphäre respektiert wird. Sie werden diese Menschen nicht in zahlreiche Liebesbeziehungen verstrickt finden. Mit ihrer Liebe gehen sie wählerisch um, lieben jedoch andererseits tief und empfindsam. Für abhängige oder kranke Menschen ist es schwierig, solche Menschen zu lieben, da sie sich von ihrer Freiheit nichts abhandeln lassen. Wenn ein anderer sie braucht, weisen sie ein solches Bedürfnis als für den anderen wie sich selbst schädlich zurück. Sie möchten, daß die, die sie lieben, unabhängig sind, ihre Entscheidungen selbständig treffen und ihr eigenes Leben leben. Obwohl sie andere mögen und gern mit ihnen zusammen sind, ist ihnen noch viel mehr daran gelegen, daß die anderen ohne Krücken und Anlehnen zurechtkommen. Noch im gleichen Augenblick, in dem Sie sich an einen dieser Menschen anzulehnen beginnen, können Sie erleben, wie er sich von Ihnen entfernt – zuerst emotional, dann auch physisch. Sie lassen sich in reifen Beziehungen weder auf Abhängigkeit ein, noch darauf, daß ein anderer von ihnen abhängig wird. Kindern gegenüber sind sie das Musterbild eines treusorgenden Erwachsenen, fördern jedoch vom ersten Tag an ihr Selbstvertrauen und geben ihnen gleichzeitig beständig sehr viel Liebe.

Sie werden bei diesen glücklichen, erfüllten Menschen auf einen außergewöhnlichen Mangel an Bestätigungsstreben stoßen. Sie können sehr gut ohne die Bestätigung und den Beifall von anderen auskommen. Im Gegensatz zur großen Mehrheit der Menschen drängen sie sich nicht nach Ruhm und Ehre. Statt dessen sind sie ungewöhnlich unabhängig von fremden Ansichten und machen sich so gut wie keine Sorgen darum, ob ihre Worte oder Taten bei anderen wohl auch Anklang finden werden. Es ist ihnen weder darum zu tun, andere zu schockieren, noch darum, ihre Zustimmung zu erlangen. Diese Menschen sind in so hohem Maße innengeleitet, daß fremde Einschätzung ihres Verhaltens sie buchstäblich nicht berührt. Natürlich sind sie Lobsprüchen und Beifall gegenüber nicht taub; es scheint ihnen eben bloß jedes Bedürfnis danach zu fehlen. Sie können fast grob werden in 249ihrer Ehrlichkeit, da sie ihre Aussagen nicht in sorgfältig formulierte, auf Gefallen berechnete Wendungen kleiden. Fragen Sie sie, was sie denken – und Sie werden genau das zu hören bekommen. Wenn umgekehrt Sie sich über solche Menschen äußern, dann lassen sie sich dadurch weder knicken noch am Boden zerstören. Sie nehmen die Informationen auf, die Sie ihnen geliefert haben, filtern sie durch ihr eigenes Wertesystem hindurch und nützen sie für weiteres Wachstum. Sie wollen weder von jedermann geliebt werden, noch hegen sie den übertriebenen Wunsch, bei allen für alles, was sie tun, Zustimmung zu finden. Sie wissen wohl, daß sie nie darum herumkommen können, fremde Mißbilligung auf sich zu ziehen. Sie fallen insofern aus dem Rahmen, als sie nach ihren eigenen anstatt nach irgendwelchen von außen kommenden Geboten zu leben imstande sind.

Beim Beobachten dieser Menschen wird Ihnen die bloß lückenhaft erfolgte Enkulturation ins Auge fallen. Beileibe keine Rebellen, entscheiden sie doch ganz nach eigenem Ermessen, selbst wenn ihre Entscheidungen dem, was alle anderen tun, widersprechen sollten. Diese Charaktere sind in der Lage, kleinliche Regeln völlig zu ignorieren, sofern sie sinnlos sind, und über die belanglosen Konventionen, die im Leben so vieler Leute solch große Rolle spielen, mit einem unbeteiligten Achselzucken hinwegzugehen. Sie sind weder notorische Partygänger, noch lassen sie sich auf das übliche seichte Geplauder ein, nur weil die Höflichkeit es verlangt. Sie begreifen sich als Menschen für sich. Obwohl die Gesellschaft in ihrem Leben durchaus von Bedeutung ist, sind sie dennoch nicht bereit, sich von ihr gängeln zu lassen oder sich ihr sklavisch zu unterwerfen. Wenn sie sie auch nicht in aufrührerischer Weise angreifen, kennen sie innerlich doch ganz genau den Punkt, an dem es sich darüber hinwegzusetzen und mit klarem Kopf und kühlem Verstand vorzugehen gilt.

Sie können lachen und verstehen es auch, Heiterkeit um sich zu verbreiten. Es gibt keine Lebenslage, in der sie nicht auch das Komische sähen und sowohl bei den absurdesten als auch den feierlichsten Gelegenheiten können sie sich das Lachen nur schwer verbeißen. Sie lieben es geradezu, andere zu erheitern, und mühelos spüren sie überall das humoristische Element auf. Man hat sie sich nicht als gesetzte, gedankenschwere Grübler vorzustellen, die schleppenden Schrittes und mit Leichenbittermiene durchs Leben gehen. Ganz im Gegenteil: 250sie sind Tatkräftige, die für ihre Leichtfertigkeit am falschen Platz nicht selten Verweise einstecken müssen. Das Gefühl für den «passenden» Augenblick fehlt ihnen, weil sie wissen, daß es das richtige Ding am richtigen Platz im Grunde gar nicht gibt. Für das Widersprüchliche haben sie eine Schwäche, doch fehlt ihrem Witz jede Schärfe; nie, wirklich nie geht ihr Humor auf Kosten anderer. Sie lachen nicht über andere, sie lachen mit ihnen. Sie lachen über das Leben. Das Ganze erscheint ihnen als großer Spaß, obgleich sie ihre eigenen Vorhaben sehr wohl geradlinig verfolgen. Wenn sie jedoch ein bißchen innehalten und das Leben aus einigem Abstand betrachten, ist ihnen bewußt, daß sie nicht auf ein bestimmtes Ziel zusteuern; dennoch bringen sie es fertig, sich zu freuen und eine Atmosphäre zu schaffen, in der auch andere Freude wählen können. Es macht Spaß, sie um sich zu haben.

Sie sind Menschen, die zu sich selbst ja sagen, ohne zu klagen. Sie wissen, daß sie menschliche Wesen sind und daß bestimmte Eigenarten einfach zum Menschsein gehören. Es ist ihnen klar, daß sie soundso aussehen, und darauf stellen sie sich ein. Sind sie groß, so ist es ihnen recht, sind sie klein, nicht minder. Eine Glatze ist gut, eine dicke Mähne aber auch. Und sogar mit Schweiß können sie es aushalten. Über ihr physisches Menschsein machen sie sich nichts vor. Da sie sich selbst akzeptiert haben, sind sie die natürlichsten Leute von der Welt. Kein Verstecken hinter künstlichem Schein, keine Entschuldigungen für irgendwelche Eigenschaften. Sie wissen einfach nicht, wie man an irgend etwas Menschlichem überhaupt Anstoß nehmen könnte. Sie mögen sich selbst und bejahen sich so, wie sie sind. Desgleichen akzeptieren sie auch die ganze Natur so, wie sie ist und wünschen sie sich kein bißchen anders. Über Dinge, die nicht zu ändern sind, wie Hitzewellen, Platzregen oder kaltes Wasser klagen sie nie, denn so wie sie sich selbst bejahen, heißen sie auch die Welt, so wie sie ist, gut. Keine Vorspiegelung falscher Tatsachen, kein Murren – einfach nur Bejahung. Sie können sich jahrelang an ihre Fersen heften, ohne es ein einziges Mal zu erleben, daß sie sich selbst herabsetzen oder sich mit irrationalen Wünschen abgeben. Statt dessen werden Sie Tatkräftige handeln sehen. Sie werden Zeuge sein, wie sie die Welt so nehmen, wie sie ist, wie ein Kind, das die natürliche Welt annimmt und alles, was sie zu bieten hat, genießt.

Sie schätzen die Natur. Sich draußen in der Natur aufzuhalten und 251alle Flecken, wo sie noch unverdorben und ursprünglich ist, zu durchstreifen, macht ihnen besonderes Vergnügen. Vor allem lieben sie Berge, Sonnenuntergänge, Flüsse, Blumen, Bäume, Tiere und praktisch die ganze Fauna und Flora. Als Menschen sind sie Naturalisten, unverfälscht und ehrlich, und sie lieben die Natürlichkeit der Welt. Wirtshäusern, Nachtklubs, Parties, Konferenzen, verräucherten Räumen und ähnlichem laufen sie nicht hinterher, obwohl sie gewiß in der Lage sind, derartige Gegebenheiten in vollen Zügen zu genießen. Sie leben im Einklang mit der Natur, der Schöpfung Gottes, wenn Sie so wollen, obwohl sie sehr gut fähig sind, in der vom Menschen gemachten Welt zu bestehen. Außerdem können sie Dinge genießen, die andere schon abgeschmackt finden. Sie werden es niemals müde, einen Sonnenuntergang zu bewundern oder durch den Wald zu laufen. Ein Vogel im Fluge ist ein ums andere Mal ein herrlicher Anblick. Weder wird ihnen eine Raupe jemals langweilig, noch eine Katze, die Junge zur Welt bringt. Wieder und wieder bewundern sie spontan. Manchen mag das vielleicht unecht erscheinen, doch sie achten gar nicht darauf, was andere sich denken. Die Ehrfurcht vor der Unermeßlichkeit der Möglichkeiten, im gegenwärtigen Augenblick Erfüllung zu finden, hält sie viel zu sehr gefangen.

Solche Menschen können sich in das Verhalten anderer hineinversetzen. Was anderen oft als komplex und undurchschaubar erscheint, sieht in ihren Augen klar und verständlich aus. Die Probleme, die so viele Leute lähmen, werden von ihnen häufig nur als kleinere Unannehmlichkeiten betrachtet. Weil sie sich dadurch gefühlsmäßig nicht mitnehmen lassen, werden sie fähig, Schranken zu übersteigen, die für die meisten immer unüberwindlich bleiben. Ihr eigenes Verhalten ist ihnen gleichermaßen einsichtig, und sie erkennen auch sofort, was andere gegen sie im Schilde führen. Sie können jedoch einfach mit den Achseln zucken und darüber hinweggehen, wo andere mit Ärger und Unbeweglichkeit reagieren. Niemals sind sie verblüfft oder verunsichert. Dinge, die den meisten anderen verwirrend oder unlösbar erscheinen, sehen sie als ganz simple Sachverhalte mit naheliegenden Lösungen. In ihrem Gefühlsleben sind sie nicht auf Probleme konzentriert. Für sie steht ein Problem nicht automatisch in direkter Beziehung mit dem, was sie als Menschen sind oder auch nicht sind; es ist tatsächlich nichts weiter als ein zu überwindendes Hindernis. Da 252ihr Selbstwert seinen Sitz in ihrem Innern hat, können sie alle äußeren Belange objektiv betrachten und nicht als wie auch immer gearteten Angriff auf ihre Persönlichkeit. Dies ist ein sehr schwer zu verstehender Zug, da sich doch die meisten Menschen durch äußere Ereignisse, Ideen oder Menschen sehr rasch bedroht fühlen. Gesunde, unabhängige Leute wie sie wissen jedoch gar nicht, wie sie sich bedroht fühlen sollten. Vielleicht ist es gerade dieses charakteristische Merkmal, das sie für andere bedrohlich macht.

Sie verschwenden ihre Zeit niemals mit nutzlosen Kämpfen. Sie sind keine Opportunisten, die sich bei allen möglichen Anlässen dem Sieger anschließen, um auch für sich ein bißchen Glanz zu erhaschen. Falls durch ihren Einsatz Veränderungen erreicht werden können, sind sie zu kämpfen bereit; aber nie werden sie es für nötig befinden, sich umsonst in die Schlacht zu werfen. Zu Märtyrern wollen sie nicht werden. Sie zählen zu den Tatkräftigen – und zu den Hilfsbereiten. Fast immer sind sie an Bestrebungen beteiligt, das Leben für andere erfreulicher und annehmbarer zu machen. Als Streiter für soziale Veränderungen stehen sie an vorderster Front, und doch schaffen sie es, immer wieder Abstand zu gewinnen und ihr Ringen nicht als Nährboden für Magengeschwüre, Herzbeschwerden oder andere körperliche Störungen auf vierundzwanzig Stunden am Tag auszudehnen. Sie sind unfähig, in Stereotypen zu denken. Die physischen Unterschiede zwischen einzelnen Leuten – rassische, ethnische, Größen- und Geschlechtsunterschiede eingerechnet – bemerken sie oft nicht einmal. Sie sind keine oberflächlichen Typen, die andere nach dem Aussehen beurteilen. Zwar mag es den Anschein haben, als ob sie nur auf Lebenslust und –genuß erpicht und selbstsüchtig wären, doch verbringen sie in der Tat außerordentlich viel Zeit im Dienste anderer. Warum sie das tun? Weil es ihnen so gefällt.

Kränkeln ist diesen Menschen unbekannt. Sie halten nichts davon, sich durch Erkältungen oder Kopfweh ausmanövrieren zu lassen, sondern vertrauen auf ihre Fähigkeit, sich von solchen Unpäßlichkeiten selbst befreien zu können. Niemals hängen sie an die große Glocke, wie schlecht sie sich fühlten, wie müde sie seien oder welche Krankheiten im Augenblick gerade ihren Körper heimsuchten. Sie behandeln ihren Körper gut. Da sie sich selbst lieben, essen sie auch vernünftig, treiben regelmäßig Sport – als fester Bestandteil ihrer Lebensweise – und 253lehnen es schlichtweg ab, die meisten der Gebrechen, die so viele Menschen immer wieder für einige Zeit hilflos darniederwerfen, selbst durchzumachen. Sie halten viel davon, gut zu leben – und sie tun es auch.

Ein weiteres Kennzeichen dieser ihr Leben intensiv ausschöpfenden Menschen ist Aufrichtigkeit. Weder geben sie ausweichende Antworten, noch heucheln sie anderen etwas vor oder lügen. Lügen betrachten sie als Verzerrung ihrer eigenen Wirklichkeit, und auf derartig selbsttäuschendes Verhalten wollen sie sich nicht einlassen. Obwohl sie die Privatsphäre eines jeden unverbrüchlich achten, werden sie es jedoch immer vermeiden, die Wahrheit zu verfälschen, selbst wenn sie andere dadurch schützen könnten. Sie wissen, daß sie selbst die Verantwortung für ihre eigene Welt tragen, so wie das auch für die anderen gilt. Deshalb werden sie sich oft auf eine Art und Weise verhalten, die von anderen als hart und unmenschlich empfunden wird; in der Tat überlassen sie es jedoch nur einem jeden, seine Entscheidungen allein zu fällen. Sie gehen auf effektive Weise mit der Wirklichkeit um, so wie sie ist, nicht wie sie sie sich erträumen.

Diese Menschen suchen den Fehler nie bei anderen. Ihrer Persönlichkeitsorientierung nach sind sie innengewendet; sie weigern sich, anderen die Verantwortung zuzuschieben für das, was sie sind.

Entsprechend haben sie auch keine Zeit dafür übrig, über ihre Mitmenschen zu reden und sich darüber den Kopf zu zerbrechen, was sie denn eigentlich so tun und lassen. Sie sprechen nicht über andere Leute, sondern mit ihnen. Sie machen den Menschen um sich herum keine Vorwürfe, sondern helfen ihnen und sich selbst, die Verantwortlichkeit auch dort zu suchen, wo sie tatsächlich hingehört. Klatschen oder anderen Übles nachreden gibt es für sie nicht. Sie sind so sehr damit beschäftigt, in ihrem eigenen Leben aktiv zu sein, daß ihnen für die kleinen Mauscheleien, die für so viele Leute eine Rolle spielen, ganz und gar die Zeit fehlt. Tatkräftige handeln. Kritiker beschuldigen und klagen.

Mit Ordnung, Organisation oder irgendwelchen Systemen haben die Individuen, von denen hier die Rede ist, wenig im Sinn. Sie besitzen Selbstdisziplin, nicht aber das Bedürfnis, daß Dinge und Menschen auch ja stets mit ihren eigenen Anschauungen darüber, wie alles laufen müßte, übereinstimmen. Sie stellen keine Solls auf für die anderen. 254Statt dessen gestehen sie jedem Menschen seine eigenen Wahlmöglichkeiten zu und sehen in den nichtigen Kleinigkeiten, die andere so nervös machen können, weiter nichts als die Folge fremder Entscheidungen. Sie hegen keine vorgefaßten Erwartungen, wie es in der Welt auszusehen habe. Von Sauberkeits- oder Ordnungsfimmel fehlt bei ihnen jede Spur. Sie existieren funktional, und wenn nicht alle Gegebenheiten ihrer Umwelt so zusammenstimmen, wie sie es vielleicht gerne hätten, akzeptieren sie das mit Leichtigkeit. Organisation ist für sie ein nützliches Mittel, kein Selbstzweck. Das vollständige Fehlen der Organisationsneurose macht sie kreativ. Sie packen jede Aufgabe auf ihre eigene, einzigartige Weise an, sei es nun, einen Topf Suppe zu kochen, einen Bericht zu schreiben oder den Rasen zu mähen. Sie bringen ihre Phantasie in jede Handlung ein, und die Folge ist kreatives Herangehen an alles, was immer auf sie zukommen mag. Von dem Zwang, alles auf bestimmte Art tun zu müssen, sind sie frei. Sie schlagen nicht in Handbüchern nach oder suchen Rat bei Experten, sondern greifen ein Problem einfach auf die Weise an, die ihnen angebracht erscheint. Das ist Kreativität, sie ist ihnen allen ohne Ausnahme eigen.

Menschen dieser Art verfügen über außergewöhnlich viel Energie. Sie scheinen mit weniger Schlaf auszukommen als andere, und doch sprühen sie vor Lebensfreude. Aktiv sind sie, und gesund. Zur Erledigung einer Aufgabe können sie gewaltige Energiereserven mobilmachen, weil sie sich nämlich entscheiden, sich dafür als einer im gegenwärtigen Augenblick erfüllenden Aktivität voll einzusetzen. An ihrer Energie ist nichts Übernatürliches dran; sie erwächst einfach aus ihrer Liebe zum Leben mit all seinen Aktivitäten. Wie man sich langweilt, wissen sie überhaupt nicht. In jeder Lage bietet sich ihnen Gelegenheit zum Handeln, Denken, Fühlen und Leben, und ihre Energien unter buchstäblich allen nur möglichen Voraussetzungen auszuleben ist für sie kein Problem. Säßen sie je im Gefängnis eingesperrt, dann würden sie ihren Geist schöpferisch arbeiten lassen, um die durch den Verlust an Interesse entstehende Lähmung auszuschalten. Langeweile kommt in ihrem Leben nicht vor, weil sie im Unterschied zu anderen ihre Energie nicht verschleudern, sondern sie konzentriert einsetzen.

Sie sind von geradezu aggressiver Neugierde. Nie wissen sie genug. Unablässig befinden sie sich auf der Suche: in jedem einzelnen gegenwärtigen 255Augenblick ihres Lebens wollen sie dazulernen. Ob sie etwas auch ja richtig machen, ob sie es vielleicht schon falsch gemacht haben – es kümmert sie herzlich wenig. Klappt es mit einer Sache nicht oder erbringt ihr Tun nicht den größtmöglichen Nutzen, dann geben sie es einfach auf, anstatt voll Bedauern darüber nachzugrübeln. Ständig darauf erpicht, Neues dazuzulernen, sind sie Wahrheitssucher, denen es nie in den Sinn käme, sich für ein Fertigprodukt zu halten. Sind sie in der Nähe eines Friseurs, dann wollen sie gern über das Haareschneiden etwas erfahren. In ihrem Fühlen und Handeln zeigen sie niemals Überheblichkeit, nie und nimmer führen sie ihre Verdienste ins Treffen, um von ihrer Umwelt Beifall zu erhalten. Sie lernen von Kindern und Börsenmaklern und Tieren. Sie möchten genauer wissen, was es heißt, Schweißer, Koch, Prostituierte oder Konzernvizevorstandsvorsitzender zu sein. Schulmeister sind sie nicht, wohl aber Lernende. Nie ist ihr Wissensdurst gestillt; und wie sie sich snobistisch oder überheblich geben sollten, davon haben sie überhaupt keine Ahnung, da sie diese Gefühle nicht kennen. Jeder Mensch, jedes Ding, jedes Ereignis bedeutet für sie eine Gelegenheit, mehr zu erfahren. Und sie sind zupackend in ihren Interessen, warten nicht, daß die Informationen von allein des Weges kommen, sondern bemühen sich aktiv darum. Keine Scheu hält sie davor zurück, sich mit einer Kellnerin zu unterhalten, einen Zahnarzt danach zu fragen, was für ein Gefühl es denn wohl sei, den ganzen Tag die Hände in anderer Leute Mund zu haben, oder sich beim Dichter zu erkundigen, was mit dieser oder jener Zeile eigentlich gemeint sei.

Vor Fehlschlägen haben sie keine Furcht. In der Tat sind sie ihnen oft sogar willkommen. Als Mensch erfolgreich zu sein, hat für sie mit Erfolg in irgendeiner Unternehmung nicht das geringste zu tun. Da ihr Selbstwert von innen kommt, können sie jedes äußere Ergebnis gelassen und objektiv als wirksam oder unwirksam betrachten. Sie wissen wohl, daß Versagen nur in der unmaßgeblichen Meinung eines anderen besteht; sie wissen, daß man sich davor nicht zu fürchten braucht, da es den eigenen Selbstwert nicht beeinträchtigen kann. Deshalb können sie auch alles ausprobieren, überall mittun, einfach weil's Spaß macht, und nie sehen sie sich gezwungen, ihr Verhalten zu erklären. Genausowenig entscheiden sie sich je dafür, sich durch Ärger selbst zu blockieren. Nach der gleichen Logik – und sie brauchen es 256sich nicht jedesmal neu zu überlegen, da es ihnen in Fleisch und Blut übergegangen ist – machen sie sich niemals selbst vor, daß die Menschen in ihrer Umgebung sich ganz anders benehmen oder der Gang der Dinge ein anderer sein sollte. Sie akzeptieren die anderen so, wie sie sind, und sie geben sich Mühe, die Umstände, die ihnen nicht gelegen kommen, zu verändern. Ärger kann es demnach nicht geben, da jegliche Erwartungshaltung fehlt. Diese Menschen besitzen die Fähigkeit, Gefühle, die sich in irgendeiner Weise selbstzerstörerisch auswirken, bei sich auszumerzen und an ihrer Stelle andere, selbststärkende Gefühle zu fördern.

Solche glücklichen Individuen kommen in bewundernswerter Weise ohne Abwehrhaltung aus. Sie versuchen nicht, die anderen mit kleinen Spielchen zu beeindrucken. Sie heischen weder mit ihrer Kleidung nach Zustimmung, noch unternehmen sie jemals sinnlose Versuche, sich selbst zu erklären. Einfachheit und Natürlichkeit sind ihnen eigen. So geringfügig oder schwerwiegend eine Sache auch immer sein mag, sie werden sie nie zur großen Streitfrage aufblähen. Hitzige Debattierer und Wortfechter sind sie nicht; sie bringen ihre Ansichten vor, hören den anderen zu – und finden sich mit der Vergeblichkeit aller Versuche ab, einen anderen davon überzeugen zu wollen, die Dinge so zu sehen wie man selbst. Sie bemerken bloß: «Das geht schon in Ordnung; wir sind eben verschieden. Es besteht ja auch kein Grund, unbedingt einer Meinung zu sein.» Dabei lassen sie es bewenden, ohne das geringste Bedürfnis, aus einer Diskussion als Sieger hervorzugehen oder den Gegner um jeden Preis von der Unrichtigkeit seines Standpunktes zu überzeugen. Sie haben keine Angst davor, irgendwo einen schlechten Eindruck zu hinterlassen, möchten ihn jedoch andererseits auch nicht bewußt provozieren.

Ihre Werte sind nicht lokal begrenzt. Sie identifizieren sich nicht mir der Familie, der Nachbarschaft, der Stadt, der Region oder dem Land, sondern sehen sich als Glieder der Menschheit. In ihren Augen ist ein arbeitsloser Amerikaner nicht etwas ganz anderes als ein arbeitsloser Deutscher. Ihr Patriotismus reicht nicht bis an eine ganz bestimmte Grenze; sie betrachten sich vielmehr als zur Menschheit als Ganzem gehörig. Es bereitet ihnen keine Genugtuung, eine höhere Anzahl von Feinden getötet zu sehen, da der Feind doch ganz genauso ein Mensch ist wie der Verbündete. Den von anderen gezogenen Trennungslinien, 257nach denen man seine Loyalität verteilen sollte, verweigern sie ihre Zustimmung. Sie überschreiten traditionelle Grenzen, weshalb sie nicht selten als Rebellen oder sogar als Verräter verschrien werden.

Helden oder Idole gibt es für sie nicht. Sie sehen alle Leute als menschlich an und räumen niemandem höheren Rang ein als sich selbst. Sie verlangen nicht in einer Tour Gerechtigkeit. Sollte ein anderer mehr Privilegien genießen, dann nehmen sie das als Vorteil für ihn, nicht als Grund, sich unzufrieden zu fühlen. Wenn sie bei Spiel und Sport gegen einen anderen antreten, wünschen sie sich eher einen starken Gegner, als darauf zu hoffen, dank fremder Fehler zu siegen. Sie möchten nicht von anderer Leute Schwächen profitieren, sondern aus eigener Kraft sieg- und erfolgreich sein. Sie beharren nicht darauf, daß alle gleich begabt sein müßten, sondern suchen ihr Glück in sich selbst. Solche Leute sind weder Kritiker, noch begrüßen sie anderer Leute Mißgeschick. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, zu sein, um darauf zu achten, was die anderen tun.

Und was das Allerwichtigste ist: diese Menschen lieben sich selbst. Sie werden vom Wunsch, sich weiter zu entfalten, angetrieben; im Zweifelsfalle ziehen sie es immer vor, gut mit sich selbst umzugehen. Für Selbstmitleid, Selbstablehnung oder Selbsthaß haben sie nichts übrig. Wenn Sie sie fragen sollten: «Mögen Sie sich selbst?» werden Sie ein schallendes «Aber sicher!» zur Antwort bekommen. Seltene Geschöpfe, ganz ohne Zweifel! Jeder Tag ist ihnen eine Wonne. Sie sind stets «voll da» und schöpfen ihre gegenwärtigen Augenblicke aus, so weit sie können. Frei von Problemen sind sie nicht, wohl aber von der daraus entstehenden Unbeweglichkeit. Ihre geistige Gesundheit läßt sich nicht daran ablesen, daß sie nie Fehler machten, sondern an der Art, wie sie mit Fehlern zurechtkommen. Liegen sie am Boden und jammern, weil sie ausgerutscht sind? Aber nein. Sie stellen sich auf die Beine, klopfen sich den Staub aus den Kleidern und machen unverzagt weiter mit dem Geschäft des Lebens. Menschen, die frei von seelischen Problemzonen sind, jagen dem Glück nicht hinterher – sie leben, und das Glück ist ihr Lohn.

In einem Artikel über «den einzigen sicheren Weg zum Glück» faßt June Callwood (Readers Digest, Juni 1974) die Einstellung dem vollen, tatkräftigen Leben gegenüber, von der wir die ganze Zeit gesprochen haben, folgendermaßen zusammen:

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«Es gibt nichts auf Erden, was das Glück weniger erreichbar machte, als der Versuch, ihm auf die Spur zu kommen. Der Historiker Will Durant hat beschrieben, wie er das Glück in der Wissenschaft suchte und statt dessen nur Enttäuschung fand. Dann suchte er es auf Reisen und fand nichts als Überdruß, suchte es im Reichtum und stieß bloß auf Zwietracht und Sorgen. Er suchte das Glück im Schreiben und fand nichts als Erschöpfung. Eines Tages beobachtete er eine Frau, die wartend in einem winzig kleinen Auto saß, ein schlafendes Kind im Arm. Ein Mann stieg aus dem Zug, ging zu den beiden hin und küßte zärtlich die Frau und dann das Baby ganz sanft, um es nicht aufzuwecken. Die Familie fuhr davon und zurück blieb Durant, mit einer blitzartigen Erkenntnis vom tatsächlichen Wesen des Glücks. Nun gab er seine Bemühungen auf, um zu erkennen, daß ‹jeder normale Lebensvorgang Freude bringt›.»

Indem Sie Ihre gegenwärtigen Augenblicke zu größtmöglicher Erfüllung nützen, können auch Sie sich zur Schar dieser Menschen hinzugesellen, anstatt Ihr Leben als Beobachter am Rande zu fristen. Freiheit von seelischen Problemen – was für eine herzerfrischende Aussicht! Sie können sich noch in diesem Augenblick dafür entscheiden – wenn Sie nur wollen!


Fußnoten

[1]Ronald D. Laing: Knoten, Reinbek 1972 (Rowohlt dnb 25)

[2]Benjamin S. Bloom et al.: Handbook on Formative and Summative Evaluation of Student Learning, New York 1971 (McGraw-Hill)

[3]Francis B. Carpenter: Six Months with Lincoln in the White House, Watkins Glenn, N.Y., 1961 (Century House)

[4]C. L. James: On Happiness. In: To See a World in a Grain of Sand, von Caesar Johnson. Norwalk, Conn., 1972 (C. R. Gibson)

[5]Terence H. White: The Once and Future King, New York 1958; deutsch: Der König auf Camelot, Stuttgart 1976 (Klett), S. 180

[6]Zit. nach Annemarie u. Franz Link (Hg. u. Ü.): Amerikanische Lyrik, Stuttgart 1974

[7]Karen Horney: Neurose und menschliches Wachstum, München 1975 (Kindler TB), S. 88/89

[8]Hermann Hesse: Gesammelte Werke, Bd. 5. Edition Suhrkamp, Frankfurt/Main 1970, S. 64/65

[9]Carlos Castaneda: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan, Frankfurt/Main 1975

[10]Hermann Hesse, Gesammelte Werke Bd. 5, Frankfurt/Main 1970 (ed. suhrkamp), S. 122

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